„Wie vom Lenz behaucht...“ - mit Jaroslav Seifert in den Mai

Jaroslav Seifert

„Ein Abend spät – der erste Mai – ein Abendmai – der Liebe Zeit“, heißt es in dem bekanntesten tschechischen Gedicht von Karel Hynek Mácha – in dem Gedicht „Mai“ von 1836. Auch in unserer Sondersendung zum Maifeiertag kommen wir um Liebe und Frühling nicht herum. Und wollen es auch gar nicht. Wir blättern in Büchern des Dichters Jaroslav Seifert. Geboren 1901 in Prag, bekam er 1984 den Nobelpreis für Literatur. Jaroslav Seifert gilt als einer der gewandtesten tschechischen Dichter. In seinem Erinnerungsbuch „Alle Schönheit dieser Welt“ nimmt er uns mit in den Frühling seines Lebens und das Prag vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Es liest Christian Rühmkorf.

Wie ich mit Lenin Schlittschuh lief (Auszug)

Mein Freund, mit dem ich gemeinsam die Schulbank drückte, wohnte in Žižkov in einem alten Zinshaus am anderen Ende des Friedhofs. Er prahlte, er könne sich ohne Mühe über die Friedhofsmauer schwingen und versprach, mir zu zeigen, wie er das mache. Auf der anderen Seite der Mauer könne man fast „die Stufen hinabsteigen“. Dort ließe sich nämlich ein lockerer Backstein aus der Mauer „brechen“, und man könne sich an den Masten der Stromleitung anlehnen.

Eines Abends im Frühling, es dämmerte schon, erfüllte er sein Versprechen. Aber unser Unternehmen nahm einen überraschenden Verlauf. Mühelos kletterten wir über die Mauer, doch dann erschraken wir so, daß wir fast wieder heruntergepurzelt wären! Jedenfalls ich. Hinter der Mauer stand, an einen Baum gelehnt, ein Liebespaar, das sich leidenschaftlich küßte; wahrscheinlich waren die beiden auf die gleiche Weise hinübergekommen wie wir. Ich hatte ein Gefühl, als wäre ich mit der Stirn jäh gegen das Glas eines Schaufensters geprallt, das ich zuvor nicht bemerkt hatte. Auch die Liebenden waren erschrocken, und das Mädchen starrte uns mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. Rasch sprangen wir wieder von der Mauer, und mein Herz pochte so wild, daß ich kaum noch atmen konnte.

Nie werde ich diesen Augenblick vergessen. Zum ersten Mal hatte ich die Umarmung von Liebesleuten gesehen, zum ersten Mal der Liebe ins Auge geschaut. Obwohl mich schon früher allerlei Visionen bedrängt hatten, war ich von dem Anblick dieser wirklichen Liebesszene schier überwältigt. So nahm ich dieses fest in meine Seele geprägte Bild menschlicher Leidenschaft ins Leben mit - ein Bild, das zärtlich, ja sogar keusch, aber durch seine Unmittelbarkeit und Lebensechtheit doch überwältigend, fast erdrückend war. Kaum konnte ich die Gemeinschaftsbeichte erwarten, die man uns an den nahen Osterfeiertagen im Schulgottesdienst abnehmen würde, um mich von den sündigen Gedanken zu reinigen, die mich nun ständig verfolgten. Endlich konnte ich, auf die Knie gesunken, dem Beichtvater hinter dem schmiedeeisernen Gitter mit einer gewissen Erleichterung meine Sünde entgegensprudeln.

Anfangs war ich überzeugt, ich hätte mich von aller Schuld, die ich auf mich geladen hatte, als ich auf die verfluchte Mauer kroch, reingewaschen. Das Bild eines von Leidenschaft gezeichneten Mädchenantlitzes und die zarte Nacktheit der weiblichen Haut wollten mir noch immer nicht aus dem Sinn. Vor allem, wenn ich in aller Herrgottsfrüh, das Kännchen Kaffee für den Herrn Katecheten in der Hand, an der Friedhofsmauer vorbeihuschte. Vergeblich wandte ich meinen Blick ab von den Grabsteinen voll seltsamer Schriftzeichen. Immer wieder sah ich die liebeshungrigen Augen des Mädchens vor mir. Die Beichte hatte mich nicht erlöst. (...)


Meine erste Liebe (Auszug)

Zu einer Zeit, als an Koedukation noch nicht zu denken war, besuchten bereits vier Mädchen unser Gymnasium, eine Klasse unter mir, Mädchen wie Rosenknospen. Wir Burschen aus den höheren Klassen durften freilich nicht mit ihnen verkehren. In der Schule hatte man uns das eingeschärft. Auch in den Pausen durften die Mädchen nicht aus ihrem Klassenzimmer. Nur für Sekunden, wenn jemand die Tür zu ihrer Klasse weit aufriß, konnten wir einen Blick auf sie werfen. Bevor sich die Tür, wieder schloß, warfen wir ihnen Kußhände zu, und die Mädel kicherten. (...)

Wenn der Frühling kam und die Bäume ausschlugen, pilgerte ich häufig auf den Petřín und in den Seminar-Garten, um der weißen Blütenpracht heimlich mein Leid zu klagen. In der Harmonie des Frühlings holte ich mir Rat von den ziehenden Wolken. Von wem auch sonst? Ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft nicht so einsam, und sie inspirierten meine Sehnsucht. Vor allem mein Fernweh. Viel hatten sie mir zwar nicht zu erzählen, doch sie machten mich ein bißchen fröhlicher. Und da sagt man „sorglose Jugend“! Sicher, der Grund dafür ist oft läppisch und lächerlich, doch ein junger Mensch empfindet nicht weniger Kummer und Leid als die Erwachsenen. Die haben ihre Jugend schon längst vergessen und suchen die Erinnerung daran mit einer Handbewegung zu verscheuchen.

Petřín  (Foto: ČTK)
Wenn der Frühling alle Wege auf dem Petřín mit seinen Düften erfüllt, weiß ich wirklich nicht, was einem jungen Mann besser „anstände“, als über die Mädchen nachzusinnen. Im Geiste umarmte ich alle vier „Schönen“ aus unserer Schule. Eine nach der anderen, und zwar in derselben Reihenfolge, in der ich mich in sie verliebte. Ich liebte aber nicht nur diese vier jungen Damen, sondern auch viele Mädchen, nach denen ich mich auf der Straße umsah oder die mir zulächelten. lm Frühling sind alle Mädchen wie vom Lenz behaucht, wie von einer lauen Brise zum Tanz gewirbelt und vom Duft der blühenden Blumen umflort, die in frischen, bunten Farben leuchten. Und die Mädchen sind besonders zärtlich und dabei zart und zerbrechlich wie kostbare Püppchen aus Meißner Porzellan, die uns ewig zulächeln. Auf die Lehne der alten Parkbank, die schon ganz bekritzelt und mit Herzen vollgeritzt war, schrieb ich oft ganze Briefe mit dem Fingernagel.

Meine Liebste und Vielgeliebte! Ich seufze und klage, und Ihr hört mich nicht! Ihr ahnt gar nicht, wie sehnsüchtig ich Euer harre. Wäret Ihr bei mir, so schenkte ich Euch ein Veilchensträußchen und läse Euch die Verse vor, mit denen ich Euch gestern besang. Wir nahmen einander bei der Hand und (…)


Im Sensenmann-Gäßchen (Auszug)

Ein Kamerad, der neben mir die Schulbank drückte, erzählte mir von einem Gäßchen auf der Kleinseite, das man „Úmrlčí“ ulička oder „Sensenmann“-Gäßchen nannte; da gäbe es ein paar übel beleumdete Etablissements mit leichten Mädchen. Die Mädchen dürften überhaupt nie ausgehen und würden streng bewacht. Vor allem verkehrten dort besoffene ungarische Infanteristen. Die „Fräuleins“, wie man sie dort nenne, liefen im Negligé herum, setzten sich den Soldaten auf den Schoß, und die Honvéds küßten sie nach Herzenslust. Mehr wußte er nicht. Mit Handschlag mußte ich ihm versprechen, keinem was zu verraten.

Es war in den letzten Monaten des ersten Weltkriegs, und Prag wimmelte von ungarischem Militär. Die Schilderung des Freundes noch in „taufrischer Erinnerung“, lenkte ich gleich anderntags meine Schritte zur Kleinseite. Ein wenig aus Neugier, ein bißchen auch aus einem anderen Grund. Von Žižkov ist es dahin ziemlich weit. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. (...)

Ich faßte mir ein Herz und eilte in die nahe „Sensenmann“-Gasse. Ich ahnte, welche das sein konnte. Sie war's tatsächlich. Auf dem Blechschild am Eckhaus stand zwar Břetislav-Gasse, doch keiner nannte sie so - wie ich später herausfand. Es war die Sensenmann - oder Totenkopfgasse, denn einst waren durch das Gäßchen die Trauerzüge auf den Kirchhof gepilgert, der auf dem nahen Johannis-Hügel (Jánský vršek) lag; auch von der Neruda-Gasse gelangte man dahin.

Der düstere Name war der Gasse geblieben, obgleich man den Friedhof längst aufgehoben hatte. Sie war kurz und schma1. Und menschenleer! Nirgends auch nur eine Menschenseele. Ich schlenderte an den Häuserfassaden entlang und schaute neugierig in die Parterre-Fenster. Nicht einmal die schmuddligen Gardinen bewegten sich. Offensichtlich war der frühe Nachmittag nicht die Zeit der Liebe. Vielleicht machten die Mädchen nach dem Essen ein Mittagsschläfchen. Auf dem Johannis-Hügel kehrte ich enttäuscht um und marschierte wieder zurück. Ich war bis vor das letzte Haus am unteren Ende der Gasse gekommen. da hörte ich, wie jemand leise ans Fenster klopfte. Wie gebannt schaute ich hin. Der Vorhang teilte sich, und ein Mädchen mit einem dunklen, über die Schulter geworfenen Zopf stand am Fenster. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Sie sah meinen verschreckten Blick, lächelte und raunte mir etwas zu. Doch ich konnte ihre Stimme hinter der Scheibe nicht hören. Das Gäßchen ist so eng, zwei Schritte genügten, und ich war auf der anderen Seite. Man kann die Gasse leicht mit einem Satz überspringen. Nun schon ruhiger, spähte ich wieder durch das geschlossene Fenster. Das Mädchen war recht hübsch, zumindest schien es mir so. Sie lächelte freundlich, und meine Furcht wich ein wenig von mir. Sie hatte wohl gemerkt, wie schüchtern und zaudernd ich war, so riß sie mit einem Ruck ihre weiße Bluse auf. Ich hatte das Gefiihl, vor Schreck plötzlich zu erbleichen, dann schoß mir das Blut jäh in die Wangen, und ich starrte entsetzt auf zwei nackte Mädchenbrüste. Verwirrt stand ich da, als wäre der Blitz neben mir in das Pflaster gefahren. Das Mädchen lächelte mir zu und mir schwindelte. Das Ganze währte nur ein paar Sekunden. Dann knöpfte das Mädchen ihre Bluse wieder zu und winkte mir, doch einzutreten. Der Vorhang schloß sich wieder.

Verwirrt trat ich den Rückzug an. Ich wollte allein sein, eilte hastig durch die Welsche Gasse (Vlašská ulice) und hielt erst am Ende der Stiege auf dem Laurenziberg inne. Dann lenkte ich meine Schritte in den SeminarGarten. Der Garten lockte mit seiner Blütenpracht. Welch ein Glück, daß die Bäume schon blühten. Unter ihren blütenbesäten Zweigen war mir wohl. Schönheit versöhnt uns mit der Welt. Dem melodischen Summen der Bienen lauschend ordnete ich meine Gedanken ein wenig und wurde ruhiger. Ich zwang mein Herz zu verstummen. Von Jugend auf, schon als es mir noch gar nicht recht bewußt war, gehörte ich zu den treuen Anbetern eines der schönsten Mythen unserer Welt. Ich glaubte an den Mythos des Weibes. Heute ist er schon rar geworden. Die Frauen haben ihren unsichtbaren Heiligenschein abgelegt und frisieren sich anders. Schade! Es gibt nichts Schöneres auf der Welt als eine nackte Blume und eine nackte Frau. Ich weiß, diese Reize sind bekannt, doch sie bergen für uns stets von neuem ein Geheimnis, und wir wollen sie immer neu entdecken.

Die erste Vision eines Frauenkörpers, den mir das Mädchen in dem verstaubten Parterre-Fenster bot, fiel jedoch wie eine mit Zeitzünder versehene Bombe in mein Herz. Ihr Bild, klar und strahlend, stand mir stets vor Augen. Es war immer bei mir und vorläufig alles, wonach ich mich damals sehnte, als ich wirklich schon um Liebe zu betteln begann.


Aus: Jaroslav Seifert, „Alle Schönheit dieser Welt“, Geschichten und Erinnerungen, Berlin 1985