„Wir tun so, als ob“ – das Prag der 1970er Jahre

Richard Swartz (Foto: YouTube Kanal Axess TV)

Der schwedische Journalist und Autor Richard Swartz war in den frühen 1970er Jahren als Austauschstudent in Prag. Nach dem Abschluss seines Wirtschaftsstudiums in Stockholm sei er noch nicht bereit gewesen für den Ernst und das Pflichtbewusstsein des „Erwachsen-Seins“, sagt er. Er wollte ausbrechen aus dem von seinem Vater für ihn vorgezeichneten Lebensweg und weg auch aus einer glücklosen Beziehung. So floh er auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs. Zwei Jahre verbrachte der spätere Osteuropa-Korrespondent des Svenska Dagbladet in Prag – und arbeitete offiziell als Wirtschaftsstudent der Prager Karlsuniversität an seiner Dissertation. Seine Erinnerungen an diese Zeit unmittelbar nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, an das Leben im Realsozialismus in der Tschechoslowakei, hat er in seinen neu erschienenen, literarisch verdichteten Memoiren „Austern in Prag. Leben nach dem Frühling“ festgehalten. Im Folgenden ein Interview mit dem Autor.

Richard Swartz  (Foto: YouTube Kanal Axess TV)
Herr Swartz, Sie sind in den frühen 1970er Jahren, unmittelbar nach Abschluss ihres Studiums in Stockholm, kurz entschlossen nach Prag gezogen – warum?

„Das war bei mir, glaube ich, Neugier auf das Leben. Und es war auch eine Flucht, muss ich zugeben. Ich war damals ein junger Mann von 22 Jahren. Eigentlich sollte da mein Erwachsenenleben anfangen. Aber das wollte ich nicht – ich war dafür noch zu jung. Also musste ich einen Fluchtweg finden, und diese Flucht hat mich nach Prag gebracht.“

Warum haben Sie gerade Prag als Zufluchtsort ausgewählt?

Invasion 1968  (Foto: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in Prag)
„Nach der Invasion 1968 hat man die Tschechoslowakei wieder einmal abgeschrieben. Kein Mensch hat sich dafür interessiert. Aber ich wollte sehen, was dort jetzt los ist, wenn sich die Welt nicht mehr dafür interessiert. Irgendetwas muss doch geschehen, das Leben muss weiter gehen. Das war der Anlass: diese Neugier. Damals in dieser 68er Atmosphäre haben doch alle von verschiedenen -ismen gesprochen: Maoismus, Trotzkismus, Stalinismus und so weiter. Und das alles war ja dort sozusagen um die Ecke. Aber dafür hat man sich nicht interessiert. Man wollte das nicht. Aber ich war wahrscheinlich ein langweiliger Pragmatiker und Positivist oder wenigstens ein Empiriker – und ich wollte mit meinen eigenen Augen und Ohren sehen und hören, was da los war.“

Waren Sie selbst auch Teil der 68er Bewegung in Schweden? Sind Sie als glühender Kommunist nach Prag gekommen?

„Die Menschen in der Tschechoslowakei waren sogar die besseren Europäer. Denn sie haben verstanden und erlebt, was sie verloren hatten.“

„Nein, ich bin insofern wirklich eine Ausnahme. Ich hatte nie diese Neigung, und ich habe damit nie geliebäugelt. Ich weiß eigentlich nicht warum. Die Schrecklichkeiten des Realsozialismus oder des Stalinismus haben mich vom ersten Augenblick an sehr beeindruckt. Und ich hatte daher mit diesen –ismen nichts zu tun.“

Was waren Ihre ersten Eindrücke vom Leben in Prag?

„Meine Schlussfolgerung hat sich sehr schnell eingestellt, nämlich, dass die Menschen hier genauso wie wir Europäer waren. Sie waren nicht anders. Sie hatten dieselben Referenzen, dieselben Träume und Vorstellungen. Mehr noch, sie waren nicht nur ebenfalls Europäer, sie waren sogar die besseren Europäer. Denn sie haben verstanden und erlebt, was sie verloren hatten. Und deshalb wussten sie etwas besser als wir, was Europa wirklich bedeutete, nämlich die besten europäischen Traditionen: Demokratie, Freiheit, Individualismus und Aufklärung.“

Wie hat das Alltagsleben in Prag damals ausgesehen?

Foto: Verlag Zsolnay
„Das Leben ging erstens weiter. Das ist das wichtigste. Und es ging weiter auf eine merkwürdige Art und Weise. Man hat es zynisch ‚normalizace’ genannt. Nach dem Prager Frühling sollte jetzt alles wieder normalisiert werden – es war eine wirklich zynische Proklamation. Aber nichts war wie früher – auf beiden Seiten. Die Gesellschaft war nicht mehr für einen reformierten Sozialismus zu gewinnen. Und diejenigen, die – ich würde fast sagen – gezwungen waren, dieses Land zu führen, waren auch keine Gläubigen mehr. Sie wussten auch, dass alles aus ist. In dieser Weise gab es dann eine Art sozialen Vertrag: Wir werden so tun, als ob. So hat die Gesellschaft funktioniert. Es ging weiter, aber auf einer Basis der totalen Desillusion und ohne irgendwelche Werte auf beiden Seiten.“

In Ihrem Buch zeichnen Sie ein Stimmungsbild der sozio-politischen Lage durch persönliche Erinnerungen und Anekdoten. Es sind gewissermaßen Detailaufnahmen, in denen die zugrundeliegenden gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse im Kleinen sichtbar werden. Ich denke hier beispielsweise an die Geschichte, als Ihnen das Futter Ihres Mantels gestohlen wurde...

„Ja, das war meine Naivität. Ich hatte einen wunderschönen englischen Mantel und habe ihn zur Reinigung gebracht. Dann bekam ich ihn zurück - aber ohne Futter. Ich war empört und ging zu meinen Freunden. Sie waren auch empört, aber über mich! Sie haben gesagt: ‚Wie kannst Du so dumm sein? Hast Du denn überhaupt nichts verstanden? Ihr habt, und wir brauchen! So einfach funktioniert das. Eigentlich ist das, was geschehen ist, gerecht.’“

„Wir haben diese Politik immer so wie schlechtes Wetter hingenommen. Aber da kamen auch ständige Platzregen.“

Prag der 1970er Jahre – es war die Zeit der Normalisierung – wie sehr war für Sie die politische Situation auch im Alltag spürbar?

„Ich habe es eigentlich auf zwei Ebenen erlebt. Erstens mit den Frauen, die ich dort getroffen habe und dann mit meiner Dissertation. Die Dissertation ist zu nichts gekommen, denn dann hätte ich das schreiben müssen, was ich dort nicht hätte publizieren können. Und mit den Frauen war es so: Man bildet sich gerne ein, dass es um Liebe geht, wenigstens um Liebelei. Aber mit der Zeit kam mir der Verdacht – und das ist wieder die Politik –, dass meine erotische Ausstrahlung (Ich habe mir damals eingebildet, dass ich so etwas hatte) wahrscheinlich mehr mit meinem Pass zu tun hatte. Weil die politischen Umstände immer da waren, sich auf die merkwürdigste Weise geäußert haben und auch solche Verbindungen zwischen zwei liebenden Menschen vergiften konnten, habe ich verstanden: Wir haben diese Politik immer so wie schlechtes Wetter hingenommen. Aber da kamen auch ständige Platzregen, und ich begriff, dass es à la longue nicht auszuhalten ist.“

Hat Ihnen diese Erfahrung, zwei Jahre im „ständigen Platzregen“ der Diktatur gelebt zu haben, Werkzeuge in die Hand gegeben, um politische Entwicklungen grundsätzlich anders zu analysieren und problematische Veränderungen vielleicht schneller zu durchschauen?

„Eigene, persönliche Erfahrungen mit einer Diktatur zu haben ist natürlich in jeder Gesellschaft ein großes Kapital – auch in einer demokratischen Gesellschaft. Denn man hat dann hoffentlich bessere Möglichkeiten zu spüren, wenn sich die Entwicklung ein bisschen in diese Richtung bewegt. Man ist ein bisschen hellhöriger. Es gibt derzeit überall in Europa – und nicht nur hier – eine Tendenz zum Populismus, der eigentlich fast immer Nationalismus ist und der in extremer Form sicher nicht mit Demokratie vereinbar ist.“

Prag der 1970er Jahre  (Foto: Archiv der Prager Verkehrsbetriebe)
Im Prag der 1970er Jahre, wie sie es erlebt haben, liegt neben der kommunistischen Diktatur aber noch etwas anderes dem Alltagsleben zu Grunde. Sie schreiben über Prag, „dass sich alles, was sich hier überhaupt ereignen könnte, bereits ereignet hat. (...) Es hat die Stadt versteinert, wie ein Insekt in honiggelbem Bernstein. (...) Mir wird klar, dass das, worin ich täglich umherstreune, eine zwar betörend schöne, aber riesige Kulisse ist, deren verfallende Schönheit nur allzu oft an jene erinnert, die nicht mehr hier sind, und daran, warum sie es nicht mehr sind…“

„Das habe ich eigentlich erst später verstanden. Prag steht symbolisch für so viel im modernen Europa. Es ist auch ein sehr deutliches und plastische Beispiel dafür, was wir heute ethnische Säuberung nennen. Diese Stadt war ja eigentlich immer auf der wichtigen Gruppen aufgebaut: die Deutschen, die Tschechen und die Juden. Nach 1945 beziehungsweise 1948 waren zwei dieser Gruppen verschwunden: die einen ermordet und die anderen vertrieben. Das heißt, Europa war einmal in dieser Stadt, ist aber nicht mehr dort.“

Ihr Buch heißt „Austern in Prag. Ein Leben nach dem Frühling“. Die Austern sind für Sie ein Symbol für das Leben in der Als-ob-Gesellschaft der Prager 1970er Jahre und für den stillen Widerstand gegen die Diktatur…

„Ich war ab und zu zum Abendessen eingeladen. Jedes Couvert hatte einen Austernlöffel. Aber nichts kam, was man damit essen sollte. Und es schien mir etwas komisch und bizarr, bis ich nach einiger Zeit verstand: Das war ein Protest gegen den furchtbaren Kommunismus, gegen diese Umstände, in denen man leben musste. Es war auch die Erinnerung an eine Zeit, als es so etwas wie Austern in Prag noch gab – also eine bessere Zeit. Und es war die Hoffnung auf eine Zukunft, in der Austern wieder serviert werden können. Es war ganz eindeutig ein Protest: Nein, wir akzeptieren kein Leben ohne Austern. Die Austern sind hier natürlich nur ein Symbol. Aber die, die gegen diese Umstände protestiert haben und sagten, nein, wir akzeptieren es nicht, die haben letzten Endes doch gewonnen. Und das ist das Schöne. Deswegen bin ich ein großer Fan von Austern in Prag.“


Das Buch „Austern in Prag. Leben nach dem Frühling“ von Richard Swartz ist bei Zsolnay erschienen.