„Zítřek začíná včera“ – „Morgen beginnt gestern“

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Es ist in aller Munde: das Jubiläum „20 Jahre danach“. Auch hierzulande rückt der zwanzigste Jahrestag der Samtenen Revolution nun mit Riesenschritten näher. Kaum eine Kulturinstitution kommt an diesem Thema vorbei. So auch das Prager Zentrum für zeitgenössische Kunst DOX. Gleich eine Serie von drei Ausstellungen widmet man dort dem runden Wende-Jubiläum. Die erste mit dem vielsagenden – und schwer zu übersetzenden - Titel „Zítřek začíná včera“ – in etwa „Morgen beginnt gestern“ - wurde vergangene Woche eröffnet.

Laut ist es in der großen Halle im Erdgeschoß des Zentrums für zeitgenössische Kunst DOX im Prager Stadtteil Holešovice. Zwei Videoprojektoren werfen großformatig Filme an die Wand. Gleich neben dem Eingang läuft ein Propagandafilm aus den 1950er-Jahren. Zu zackiger Marschmusik marschieren auf der Prager Letná-Höhe hunderte Soldaten in gleichmäßigen Formationen; in Reih und Glied im Stechschritt. Glückliche Hausfrauen, Rentner und Kinder winken mehr oder weniger begeistert und schwenken rote Fähnchen. Ältere Männer mit dicken Brillen und reich dekorierten Militäruniformen halten mit ernster Miene Ansprachen. Dazu preist der Filmsprecher mit salbungsvollen Worten die Segnungen des Sozialismus.

Auf der Wand nebenan läuft die Schlussszene des tschechischen Dokumentarfilms „Český den“ – „Der Tschechische Traum“. Im Jahr 2003 hatten zwei junge Filmregisseure mit wochenlangen Werbekampagnen und verlockenden Angeboten tausende Prager zur Eröffnung eines Riesen-Supermarktes an den Stadtrand gelockt. Doch alles stellte sich als Fiktion heraus, der vermeintliche Hypermarkt entpuppte sich als ein mit einer bedruckten Plane bespanntes Baugerüst. Empört zogen die Leute wieder ab, einige ließen ihre Wut am Auto und auch an den Gesichtern der beiden angeblichen Supermarkt-Direktoren und Filmregisseuren aus. Nur mit Mühe konnten die beiden halbwegs unversehrt vor der aufgebrachten Menge flüchten.

Was haben diese beiden Filme nun in einer Ausstellung zum zwanzigsten Jahrestag der politischen Wende in Tschechien zu suchen? Das erklärt der künstlerische Leiter des DOX, Jaroslav Anděl, im Gespräch mit Radio Prag:

„Eigentlich wäre es korrekter zu sagen, dass das eine Videoinstallation ist. Denn hier läuft ja kein ganzer Film, sondern es handelt sich um Ausschnitte. Außerdem rattert hier kein Filmstreifen durch den Projektor, sondern alles kommt von einer DVD und schließlich befinden wir uns in einer Galerie und nicht im Kino. Das Medium Film ist also aus seiner gewohnten Umgebung gerissen. Aber jetzt zu ihrer Frage nach dem Warum: Es geht hier um zwei tschechische Träume, nicht nur um einen. Jeder der beiden repräsentiert seine Epoche, das politische Umfeld, in dem er entstanden ist. Dank dieser Videoinstallation finden diese Filmausschnitte nun hier in der Ausstellungshalle zueinander. Je nachdem, wo man steht, mischen sich ihre Geräuschkulissen. Dadurch werden diese beiden unterschiedlichen Träume miteinander konfrontiert und der Besucher ist gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. Und genau darum geht es uns.“

Aber natürlich liege der Schwerpunkt der Ausstellung auf der Gegenwart, fügt Anděl hinzu. Wichtig sei es ihm und den Künstlern gewesen, ein Bild von Tschechien zu zeichnen, das sich gerade in seiner schwersten politischen, moralischen und gesellschaftlichen Krise seit der Samtenen Revolution befinde.

„Schon der Titel ‚Morgen beginnt gestern’ regt zum Nachdenken darüber an, in wieweit das, was wir heute in unserer Umgebung wahrnehmen, durch die jüngere Geschichte bestimmt ist, wie stark die Gegenwart durch die Vergangenheit beeinflusst wird. Das ist die zentrale Frage, mit der sich diese Ausstellung befasst und die auch im Titel anklingt.“

In den Begleittexten biete man den Ausstellungsbesuchern als eine Art Richtschnur auch theoretische Referenzen an, sagt Kurator Jaroslav Anděl. Im Zentrum dabei stehen neurologische Forschungen, die sich damit beschäftigen, wie sehr das Handeln im Erwachsenenalter durch Erfahrungen in der Kindheit geprägt wird.

„Das ist eine mögliche Betrachtungsweise der zeitgenössischen Realität. Genau aus diesem Grund haben wir zu unserer Ausstellung junge Künstler eingeladen, vor allem Vertreter der jüngsten Generation. Es gilt heute als nahezu erwiesen, dass die ganz konkreten Erfahrungen der einzelnen Generationen ihre Wahrnehmung, ihr Denken und damit ihr Handeln beeinflussen.“

Eine dieser jungen Künstlerinnen ist Zuzana Kubíková, Mitglied der Designer-Gruppe „Liv Ducci Lab“, die in ihrer Arbeit die Parolen der Samtenen Revolution in die Gegenwart projizieren:

„Das sind insgesamt sieben Leuchtkästen, die genau die gleiche Form haben, wie die Reklameschilder von Firmen, sie sind auch vom gleichen Hersteller. Diese Schaukästen zeigen jene Logos und Zeichen, denen wir jeden Tag auf der Straße begegnen. Doch wenn man näher hinsieht, dann entdeckt man in diesen vermeintlichen Werbeschildern die Parolen der Samtenen Revolution. Das heißt, die Sprüche sind von damals, ihre Darstellung haben wir aber in die heutige, ‚vulgarisierte’ Form versetzt, die jeden Tag auf uns hereinbricht. Überall diese Leuchtreklamen mit ihrem misslungenen Design, diese Mischung aus verschiedenen Farben, grafischen Zeichen, typographischen Elementen – alles wild durcheinander. Und diese verschiedenen Leuchtkästen hängen nebeneinander auf einer Wand, genau so wie wir es aus den großen Einkaufszentren und von Flughäfen kennen.“

„Liv Ducci Lab“ wollen damit an die Ideale der damaligen Regimekritiker erinnern und aufzeigen, wie sich der Freiheits-Traum von damals innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre gewandelt hat. Damit knüpft diese Arbeit direkt an die Videoinstallation an, die den kommunistischen Propagandafilm mit dem Dokumetarfilm „Český sen“ – „Der Tschechische Traum“ konfrontiert.

Einen noch etwas weiteren Bogen in die Vergangenheit spannt die Arbeit der Gruppe PODEBAL, die sich selbst als Pioniere der politischen Kunst in Tschechien sehen. Auch sie arbeiten mit Leuchtkästen, die die Porträts junger Frauen zeigen. Alle tragen das gleiche weiße T-Shirt mit dem Logo einer bekannten, auf Hühnerfleisch spezialisierten Schnellimbiss-Kette. Auch hier bemerkt man den konkreten künstlerischen Eingriff vielleicht erst auf den zweiten Blick: Statt der Buchstaben der Firma erscheinen auf den Trikots die Initialen des Gründers des tschechoslowakischen Staates – TGM, die hierzulande sehr gebräuchliche Abkürzung für Tomáš Garrigue Masaryk. Und auch das Porträt des amerikanischen Hühnerfleisch-Braters ist jenem des ersten tschechoslowakischen Präsidenten gewichen, wobei die Ähnlichkeit geradezu frappierend ist.

„Es geht um die Verflechtung der kommerziellen und der politischen Ikonographie, also einerseits um die Werbebotschaften und andererseits um eine ganz bestimmte Symbolik, die mit der Identität der tschechischen Nation verbunden ist. Aber wir begeben uns auch noch auf eine weitere Ebene: mit weiteren beleuchteten Fotos aus den Siebzigerjahren erinnern wir an die noch gar nicht so lange vergangene Zeit der so genannten ‚Normalisierung’, diese letzten Phase des kommunistischen Systems. Es treffen also auch hier wieder die verschiedenen historischen und ideologischen Ebenen aufeinander. Womit wir wieder beim Titel ‚Morgen beginnt Gestern wären.“

Doch nicht nur die Ausstellung bietet Gelegenheit und Anregungen zum Nachdenken über den Wandel der tschechischen Gesellschaft innerhalb der vergangenen 20 Jahre und die zukünftige Entwicklung, wie der künstlerische Leiter des Zentrums für zeitgenössische Kunst „DOX“, Jaroslav Anděl im Radio-Prag-Interview sagt:

„Die Ausstellung wird durch eine Serie von Vorträgen und Diskussionen begleitet. Das ist ein ganz wichtiger Bestandteil unseres Programms, denn wie gesagt, wir wollen Fragen aufwerfen und die Leute zum Nachdenken animieren. Genau das soll eben in diesem Begleitprogramm geschehen.“

Die Ausstellung „Zítřek začíná vřera“ ist noch bis zum 23. November im Prager Zentrum für zeitgenössische Kunst DOX zu sehen. Und alle Informationen dazu finden Sie auf den Internetseiten des DOX .