Der Schmerz der anderen – Ausstellung zum Ukrainekrieg im DOX in Prag
Können Kunstwerke Mitgefühl auslösen? Haben sie das Potenzial, Menschen für fremdes Leid zu sensibilisieren? Diesen Überlegungen geht eine Ausstellung im Prager Zentrum für Moderne Kunst nach, dem DOX. Ihr Titel „Der Schmerz der anderen“ spielt auf einen Essay von Susan Sontag an. Den aktuellen Anlass für die Ausstellung lieferte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Die Grafiken und Gemälde, Fotos und Installationen erweitern den Blick jedoch auf viele andere Kriege in Geschichte und Gegenwart. Über 40 international renommierte Künstler vereinigt die Gruppenausstellung.
Seit Beginn der Ausstellung hat es sich immer wieder gezeigt: Ein kleiner, gerahmter Triptychon aus drei Schwarz-Weiß-Fotos berührt viele Besucher am meisten. Die Fotos zeigen ein Mädchengesicht von links, von vorne und von rechts – so wie es Fahndungsfotos erfordern. Aufgenommen hat die Bilder der Fotograf Wilhelm Brasse 1942. Das war sein Job, zu dem man ihn als Häftling des Vernichtungslagers Auschwitz gezwungen hatte. Czesława Kwoka, dem abgebildeten Mädchen, steht das Leid ins Gesicht geschrieben, obwohl sie sich zusammennimmt. Ihr inneres Ringen wirkt zutiefst bestürzend. Kurze Zeit nach der Aufnahme wurde die 14-Jährige ermordet. Wilhelm Brasse hat nach dem Krieg nicht mehr fotografiert. Die Gespenster Hunderttausender ermordeter Kinder ließen ihn nicht mehr los.
Seine mächtige Wirkung verdankt das Werk „Gefangener Nr. 26947“ nicht zuletzt der Art, wie es in der Ausstellung „Der Schmerz der anderen“ präsentiert wird. Einer der Kuratoren war Leoš Válka, zugleich Direktor des DOX:
„Bei der Auswahl der Kunstwerke unterlagen wir gewissen Einschränkungen. Der auslösende Impuls, diese Ausstellung zu veranstalten, war der Beginn des kriegerischen Konflikts in der Ukraine. Wir wollten zu der aktuellen Lage Stellung beziehen. Uns war bewusst, dass wir schnell handeln mussten.“
Kunst kann Empathie kultivieren
Auf manche hochkarätigen Objekte, die gut ins Konzept gepasst hätten, wurde daher verzichtet. Die Verhandlungen mit den Leihgebern hätten einfach zu lange gedauert. Wichtiger war für die Kuratoren die gesellschaftliche Wirkung.
„Es ging uns darum, dass die Kunstwerke durch ihre Botschaft die Besucher ins Herz treffen und emotional bewegen. Denn unser Thema ist der Schmerz der anderen und das Potenzial der Kunst, den Betrachtern den Schmerz näherzubringen oder das Leiden der Menschen, die es durchmachen müssen“, so Válka.
Die Ausstellung stellt ganz unterschiedliche Exponate nebeneinander. Dabei beschwört jedes Kunstwerk oder Objektensemble eines Künstlers eigene Assoziationen herauf, je nach dem Konflikt, auf den es sich bezieht, und je nach Machart. Die Objekte bilden so Stationen, die einzeln betrachtet werden können. In der Summe zeigen sie eine eindrucksvolle Bandbreite von künstlerischen Antworten auf durch Kriege bewirktes Leid. Auch der historische Wandel der künstlerischen Mittel trete dabei deutlich hervor, sagt der Kurator:
„An manchen Ensembles und historischen Zyklen arbeiteten die Künstler viele Jahre lang. Mit den neuen Medien wiederum können visuelle Inhalte in wenigen Stunden produziert werden, und sie sind augenblicklich online zugänglich. Sie setzen kein meditatives Erlebnis mehr voraus. Die Ausstellung zeigt also auch die veränderte Dynamik bei der Kommunikation von Inhalten auf.“
Einer der historisch ältesten Künstler ist der lothringische Grafiker Jacques Callot. Als einer der ersten stellte er den Krieg ungeschminkt in seiner ganzen Rohheit, ohne Pathos und Heroisierung dar. Callots Bilderzyklus „Die Gräuel des Krieges“ entstand 1633, mitten im Dreißigjährigen Krieg. Die brutalen Angriffe auf Zivilisten, die er abbildet, waren seinerzeit ein Tabubruch. Francisco de Goya inspirierten diese Grafiken zu seiner berühmten Serie „Die Schrecken des Krieges“. Sie entstand fast zwei Jahrhunderte später, während der Napoleonischen Kriege und des Unabhängigkeitskriegs der Spanier.
Ästhetische Reduktion auf das Wesentliche
Am anderen Ende der Zeitskala steht der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. In der Ausstellung sind mehrere ukrainische Künstler vertreten, teilweise leben sie im Exil. Zu sehen sind etwa Collagen von Sasha Kurmaz oder das Kriegsskizzenbuch von Bohdan Sokur. Leoš Válka hat analysiert, wie der Krieg den Schaffensprozess der Künstler prägt, die ihn hautnah erleben:
„Bei ihrer unmittelbaren Reaktion auf den Krieg verzichten die Künstler darauf, nach formaler Vollkommenheit zu streben. Es geht ihnen vor allen Dingen um ursprüngliche, authentische Ausdrucksmittel. Paradoxerweise kehren gerade die akademisch gebildeten Künstler zu den Wurzeln elementarer Techniken zurück. Die Bilder sind einfacher, stärker stilisiert, direkter. Es ist interessant zu sehen, dass es zu einer Reduktion auf das Allerwichtigste kommt.“
Eine Multimedia-Installation des in Turin lebenden Künstlers Dario Bosio demonstriert das „Verwirrte Bewusstsein“, das durch die Flut von Bildern und Nachrichten aus dem Ukrainekrieg in den sozialen Medien entsteht. Die Posts beruhen zwar zum Teil auf Fakten, verfälschen aber oftmals die Tatsachen gezielt. Otto Dix ist durch einige grafische Blätter mit Motiven aus dem Ersten Weltkrieg vertreten. Andere Kunstwerke vermitteln die Gewalt an Kriegsgefangenen, das Leid von Flüchtlingen oder Opfern von Pogromen. Ein Muss waren für die Kuratoren ikonische Fotos wie das „Tal des Todesschattens“ von Roger Fenton, das 1855 im Krimkrieg entstand, eines der ersten Bilder von Kriegsberichterstattern überhaupt, oder das „Napalm-Mädchen“ von Nick Ut aus dem Vietnamkrieg. Gezeigt wird auch Robert Capas umstrittener „Fallender Soldat“ aus dem Spanischen Bürgerkrieg, dessen Echtheit manche Fachleute angezweifelt haben.
„Robert Capa erfasste einen Soldaten im Augenblick des Todes. Dieses Foto eroberte die Medien, es wurde rund um den Globus überall nachgedruckt. Und es brachte den Menschen den Krieg so nahe, als fände er vor ihrer Haustür statt. Wir haben in unserer Ausstellung mehrere solche ikonische Fotografien. Sie sind Beispiele dessen, dass schon eine einzelne Fotografie einen beachtlichen politischen Druck der Öffentlichkeit auf die Beendigung des Krieges auslösen kann, wie das beim Vietnamkrieg der Fall war“, sagt Válka.
Ganz bewusst wurde auch russische Kunst in die Auswahl mit einbezogen, etwa Aktionen der Gruppenperformance „Partei der Toten“. Die Gedenkstätte Lidice habe sich als Partner an der Ausstellung, erläutert der Kurator:
„Lidice als Ort, der im Zweiten Weltkrieg ausgelöscht wurde in einer unmittelbaren Reaktion auf das Heydrich-Attentat, ist ein historisches Beispiel von Gewalt gegen Männer, Frauen und Kinder. Dieses Ereignis löste seinerzeit ein so großes Echo weltweit aus, dass sich Künstler auch noch viel später damit auseinandergesetzt und der Gedenkstätte Lidice sogar Werke geschenkt haben. Das Museum der Gedenkstätte hat daher sehr viele Kunstwerke im Depot.“
Auch wenn es naiv wäre zu glauben, dass Kunst bei politischen Entscheidungen eine nennenswerte Rolle spielt, hat sie doch ein gewisses Potenzial, auf das Bewusstsein der Menschen einzuwirken. Davon ist Leoš Válka überzeugt:
„Unsere Ambition ist es, durch die Ausstellung ein Kunsterlebnis zu ermöglichen. Die Besucher können sich hier Zeit für die Kunstwerke nehmen. Sie unterliegen nicht dem Druck des medialen Wirbelsturms, der ihnen im Sekundentakt grauenhafte Bilder von brutaler Gewalt vor Augen führt. Das bewirkt eine Verwässerung der Informationen, eben weil es so viele sind. Das Kunstwerk zieht die gesamte Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich, schon deswegen versuchen wir hier vor Ort, solange wir in der Galerie im Warmen und Trockenen sind, nachzuempfinden, wie das ist, wenn jemand wirklich leidet. Die Exponate sind sehr verschieden, manche monumental, andere eher intim, einige superrealistisch, andere stark stilisiert. Doch sie sind alle Kunst, und Kunst hat etwas Magisches an sich. Wenn es gut läuft, berührt sie uns dadurch und verändert unsere Art und Weise zu denken.“
Die Ausstellung ist noch bis Mitte April zu sehen – und zwar im DOX, dem Zentrum für Moderne Kunst im Prager Stadtteil Holešovice.