Zwischen Armuts-Romantik und Ekel

Foto: Archiv des Museums der Hauptstadt Prag
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Sie waren die Kehrseite der erfolgreichen Tschechoslowakischen Republik in der Zwischenkriegszeit – die Slums von Prag. Dort lebten die Menschen, die in den Fabriken der Hauptstadt ihr Glück finden wollten, am Ende aber scheiterten. Heute überwiegt dennoch ein eher romantischer Blick auf die damaligen Armensiedlungen. Zwei Ausstellungen im Museum der Stadt Prag zeigen nun, wie man mit der damaligen Armut in der Hauptstadt umging, und wie die Not heute aussieht.

Foto: Archiv des Museums der Hauptstadt Prag

Ehemalige Gemeindeschule in der Siedlung Slatiny  (Foto: Vojtěch Ruschka)
Im Film „Gemeindeschule“ von Jan Svěrák spielt sie die Hauptrolle – die Siedlung Slatiny im Südosten Prags. Svěrák begleitet in dem Streifen einen Jungen beim Heranwachsen vor dem Hintergrund der euphorischen Nachkriegszeit. Der Alltag in der Siedlung wird darin als mehr oder weniger romantisches Miteinander beschrieben – noch in den 1920er Jahren sah das ganz anders aus. Slatiny gehörte nämlich zu den typischen Prager Elendsvierteln in der Zwischenkriegszeit. Und davon gab es damals einige, erklärt Jana Viktorínová. Die Historikerin hat an der aktuellen Ausstellung „Chudá Praha“, also „Armes Prag“ mitgearbeitet, dort ist die Armut damals und heute das Hauptthema:

„Von den großen Armutskolonien gab es in Prag in etwa zehn, unter anderem hießen Sie Na Strži, Pod Bohdalcem, Čína, Prosek oder eben Slatiny. Im Schnitt hatte jede Siedlung 150 Hütten. Die größte war Slatiny mit ihren rund 400 Baracken. Dort lebten zeitweise bis zu 2500 Menschen, wobei das aber nur Schätzungen sind.“

Jana Viktorínová  (Foto: YouTube)
Wer einmal beispielsweise in Slatiny gelandet war, musste selbst für sein Dach über dem Kopf sorgen. So entstanden in den 1920er Jahren die ersten Hütten in den Siedlungen. Meist bauten die Bewohner diese aus Holzabfällen und allem, was man noch so finden konnte. Es gab zudem eine Besonderheit, was die Architektur in den ehemaligen Prager Slums angeht. Dabei spielte die Tschechoslowakische Bahn eine wesentliche Rolle:

„Wir wissen, dass oft Eisenbahnwagons als Behausung in diesen Armensiedlungen gedient haben. Allein in der Kolonie Malvazinky standen 90 ausgediente Waggons, und auch im Slum Čína im Stadtteil Vysočany standen welche. Eigentlich war die Anschaffung eines solchen Waggons nicht unbedingt günstig. Zwar waren die ausgedienten Anhänger an sich nicht so teuer, aber der Transport zum gewünschten Ort war vergleichsweise kompliziert. Deshalb findet man in Kolonien, die nahe an Eisenbahnverbindungen liegen, weitaus mehr solcher Waggons als in anderen Siedlungen.“

Foto: Archiv des Museums der Hauptstadt Prag
Wie viele Menschen im Schnitt in einer Elendshütte lebten, das ist laut Viktorínová nicht mehr wirklich nachvollziehbar. Es dürften aber stets Familien gewesen sein, die manchmal noch Untermieter bei sich aufgenommen haben.

Obdach in Ziegeleien und Höhlen

Einfach war das Leben in der Zwischenkriegszeit nicht. Die Folgen des ersten Weltkriegs waren noch zu spüren und das Sozialsystem des jungen Staates war unterentwickelt. Schließlich riss die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre große Teile der Bevölkerung ins Elend. Zu jener Zeit waren aus den Prager Slums fast schon richtige Stadtviertel geworden. Im Vergleich zu anderen Notbehausungen für die Ärmsten der Armen waren die Hütten dort aber sogar richtig komfortabel. Denn viele Tschechoslowaken lebten unter noch viel schlimmeren Bedingungen. So hätten zahlreiche Familien in Ziegeleien gehaust, erklärt Jana Viktorínová:

„Es gibt zeitgenössische Presseberichte, die schon im ausgehenden 19. Jahrhundert davon sprechen, dass Menschen in Ziegeleien Obdach gefunden hätten. Noch verbreiteter war das dann aber tatsächlich in der ersten Tschechoslowakischen Republik, vor allem zu Zeiten der großen Wohnungsnot, als die Arbeitslosigkeit hierzulande besonders hoch war. Die meisten Ziegeleien gab es in den Randbezirken Prags, etwa in Košiře. Sie hatten trotz des vielen Staubs den Vorteil, dass es dort warm war. Deshalb waren die Werke zunächst für Landstreicher attraktiv. Aus den zwanziger Jahren gibt es dann Fotos von Familien mit Kindern, die dort gelebt haben.“

Foto: Archiv des Museums der Hauptstadt Prag
Außerdem habe es in den Felswänden rund um die Stadt Höhlenbehausungen gegeben, erläutert die Historikerin weiter:

„Solche gab es beispielsweise in den heutigen Vierteln Strahov, Ladronka oder Na Vidouli. Die Menschen haben sich einen Raum in den Stein gehauen, der einen normalen Eingang und sogar Fenster hatte. Meist wurde die Behausung noch durch einen Anbau erweitert.“

Beispielsweise in Vinoř unweit von Prag würde es noch immer einige solcher Höhlen geben, erklärt Vitktorínová. Von den heutigen Bewohnern würden sie als Lagerräume genutzt.

Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg

Foto: Archiv des Museums der Hauptstadt Prag
Schnell merkte die Regierung der Tschechoslowakei jedoch, dass sie die Slums nicht sich selbst überlassen konnte. Unter anderem die Angst vor Seuchen führte dazu, dass man in die Elendsviertel investiert hat:

„Zu Anfang waren die Bedingungen dort tatsächlich katastrophal, es gab weder befestigte Wege, noch Strom und Wasser oder eine Müllabfuhr. Gerade die Abfälle waren ein großes Problem damals in den Kolonien. Die Stadt hat dann begonnen, viel Geld in diese Armutsviertel zu investieren, vor allem in die Infrastruktur, Elektrifizierung und die Wasserleitungen. So hatten die Menschen dort wenigstens Brunnen oder Pumpen in unmittelbarer Nähe. Je erträglicher die Umstände in den Kolonien wurden, desto mehr Leute haben sich dort auch für ein dauerhafteres Leben eingerichtet. So haben sie ihre Waggons oder Hütten immer weiter ausgebaut. Doch nur solange die nötigen Mittel dazu da waren.“

Kolonie Slatiny  (Foto: Vojtěch Ruschka)
Irgendwann wurden aus den Elendsbaracken richtige Häuschen mit Küchen und Sanitäranlagen. In den wenigen erhaltenen Siedlungen und Häusern leben immer noch Nachfahren der ursprünglichen Bewohner. So ist das unter anderem in der Kolonie Slatiny. Manchmal baute die Stadt sogar eigene Wohnbaracken, von denen auch noch einige stehen und bewohnt sind.

Viele Menschen aus den Slums entschieden sich jedoch schließlich für einen Wegzug. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders nach der Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1948 sollten die Armen es endlich besser haben. Vor allem ihnen kamen deshalb die umfangreichen Wohnungsbauprogramme jener Zeit zugute:

Foto: Archiv des Museums der Hauptstadt Prag
„Einige haben die Kolonien schon während des Zweiten Weltkriegs verlassen, zu einem massenhaften Auszug kam es dann in den 1960er und 70er Jahren. Denn gerade die Bewohner solcher Siedlungen wurden bei der Wohnungsvergabe bevorzugt. Die Siedlungen selbst wurden nach und nach abgerissen. In den Augen der sozialistischen Regierung waren sie nämlich das Sinnbild der Verelendung der Arbeiterklasse in der ersten Republik. Deshalb hat die neue Staatsführung das Ende der Slums initiiert.“

Zwischen Armuts-Romantik und Ekel

Heute existieren nur noch Reste der ehemaligen Elendssiedlungen. Die Erinnerungen an jene Zeit sind jedoch etwas ganz Besonderes:

„Das Prager Institut für Ethnographie und Folkloristik hat in den 1960er Jahren eine Umfrage unter ehemaligen Bewohnern der Armutskolonien durchgeführt. Dabei kam heraus, dass die Menschen eigentlich nur an die ersten Jahre schlechte Erinnerungen hatten. Danach gewöhnten sie sich an das Leben in den Kolonien. Außerdem hoben die ehemaligen Bewohner Dinge wie das Gemeinschaftsgefühl in den Siedlungen oder die guten nachbarschaftlichen Beziehungen hervor. Gleichzeitig verbesserte sich ja auch der Lebensstandard in den Kolonien.“

Heute ist Armut wieder ein aktuelles Thema in Tschechien. Vor allem die hohen Obdachlosenzahlen sind alarmierend. Allein in Prag leben offiziell knapp 8000 Menschen auf der Straße, die Dunkelziffer dürfte viel höher sein. Heute würde das Elend jedoch durch eine andere Brille betrachtet, meint Jana Viktorínova:

„Ich glaube nicht, dass das Thema in der heutigen Gesellschaft ein Tabu ist. Es fehlt eher das Verständnis dafür und es herrscht ein massiver Unwille, sich damit zu beschäftigen. Ich habe ja die aktuelle Ausstellung zur Geschichte der Armut hierzulande vorbereitet und daneben ist gleich die Schau über eine moderne Obdachlosenkolonie, die sogenannte Dýmová hora zu sehen. Nun ist es so, dass die alten Fotos der Elendskolonien im alten Prag eher so etwas wie rührige Nostalgie hervorrufen. Dahingegen sorgt die heutige Armut bei den Menschen für Ekel. Das aber nicht nur, weil die aktuelle Not stinkt, sondern weil sie uns vor entscheidende ethische Fragen stellt, mit denen wir uns einfach nicht befassen wollen. Daher wird das Thema Armut eher ignoriert, als dass es ein Tabu darstellt.“

Dýmová hora  (Foto: Archiv des Museums der Hauptstadt Prag)
Die Dýmová hora, zu Deutsch in etwa Rauchberg, ist ein ehemaliges Obdachlosenlager im Prager Stadtteil Třebešín. Der Name kommt daher, weil die Obdachlosen dort in Massen Isolationen von Kupferkabel abgebrannt haben, um das Metall weiterverkaufen zu können. Die Ausstellung dazu zeigt persönliche Gegenstände der ehemaligen Bewohner und erzählt ihre Geschichten. Gestaltet hat sie unter anderem der Aktionskünstler EPOS 257.

Die Ausstellung „Chudá Praha“ über die Prager Slums ist noch bis Ende August im Museum der Stadt Prag zu sehen, die Schau über die Obdachlosensiedlung Dýmová Hora sogar noch bis Dezember.