21. August 1968 – Das erste Blatt in der Stasi-Akte von Heinz Eggert
Der 21. August 1968 war ein traumatischer Tag für die Tschechoslowaken. Aber nicht nur für sie. Einer, dessen Leben an diesem Tag auf den Kopf gestellt wurde, war Heinz Eggert, der damals in Warnemünde lebte. Die Ereignisse in der Tschechoslowakei haben, ohne dass er es wollte, aus ihm einen Regimegegner gemacht. Es folgte ein harter Weg, der ihn aber nach der Wende bis in eines der höchsten Staatsämter des Freistaates Sachsen führte. Christian Rühmkorf hat Heinz Eggert besucht und mit ihm über seine Geschichte und den Schicksalstag seines Lebens gesprochen.
Herr Eggert, Sie haben mal gesagt, wenn sich die Deutsche Einheit am 20.08.1968 vollzogen hätte, dann wären sie trotz ihrer Jugend, also damals 22 Jahre, bereits eine „politische Altlast“ gewesen. Wie meinen Sie das?
„Das ist eigentlich ganz einfach: weil der 21.8.1968 für mich so etwas wie ein politisches Erweckungsdatum war. Bis dahin war ich relativ unkritisch dem Sozialismus gegenüber. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, die eigentlich keine großen politischen Probleme mit dem Sozialismus hatte. Es war einmal – 1953 - dass meine Mutter meinen Stiefvater ins Zimmer eingeschlossen hat, als die Russen am 17. Juni an der Werft in Rostock schossen, mit den Worten: „Du bist nicht gesund aus dem Krieg zurückgekommen, damit sie dich jetzt erschießen.“ Aber das war die einzige politische Diskussion, die ich damals erlebt habe. Ich war in allen Organisationen drin, die es im Sozialismus gab, auch in der ´Deutsch-Sowjetischen Freundschaft´. Relativ unkritisch. Außerdem gab es ja damals immer für alle kritischen Nachfragen, den einen Satz; der alle anderen Argumente erschlagen hat: „Bist du für den Frieden, oder bist du für den Krieg?“
Herr Eggert, wenn ich richtig informiert bin, sind Sie nach der 8. Klasse von der Schule geflogen, weil Sie zu häufig geschwänzt haben. Aber dann stand doch noch eine kleine Kariere ins Haus.
„Ja, das ist manchmal so, man muss ja Jugendlichen immer zwei oder drei Chancen geben und ich bekam dann doch noch eine Chance, nachdem ich ein Jahr auf dem Bau gearbeitet hatte. Ich habe dann bei der deutschen Reichsbahn gelernt und war der jüngste Stellwerksmeister der DDR und später auch Fahrdienstleiter.“
Beruflich hatten Sie dann Ihren Weg gefunden. Welcher Weg hat Sie eigentlich nach Prag und in die Tschechoslowakei geführt? Also wie haben Sie dann Kontakt zu diesem Land und seinen Menschen gefunden?
„Ich habe dann in Warnemünde zwei ältere Damen kennengelernt. Eine davon war Professorin für Völkerkunde. Ich hatte mich mit ihnen unterhalten und auch dafür gesorgt, dass sie eine Übernachtung in Warnemünde bekamen. Und sie haben mich dann nach Prag eingeladen. Und als sie dann das zweite Mal schrieben, wo ich denn bleibe und dass sie sich sehr freuen würden, habe ich meine Freifahrtscheine genutzt und bin nach Prag gefahren und habe dann die Erfahrung gemacht, dass ich aus einer politisch sehr unkritischen Familie in eine Familie hineinkam, die sehr, sehr kritisch nachdachte und auch darüber diskutierte.“
Wo bewegen wir uns jetzt zeitlich und wie oft waren Sie dann in Prag zu Besuch?
„Das war Ende 1967 und ich bin bis zum Juli 1968 vier oder fünf Mal in Prag gewesen. Das hatte natürlich auch einen Grund. In der Familie gab es eine Tochter, die hieß Marta, und wir mochten uns.“
Da will ich jetzt nicht nach Details fragen, aber wie sahen die Besuche aus? Was haben Sie dort in Prag erlebt, wenn Sie auch gleichzeitig im Hinterkopf haben, wie ihr Leben in der DDR aussah?
„Der Prager Frühling passt eigentlich zur Situationsbeschreibung in vielen Bereichen. Prag war damals eine ungeheuer heitere, offene Stadt. Es wurden politische Diskussionen geführt, die ich aus der DDR nicht kannte. Man konnnte Musik hören, die in der DDR noch die Musik des Klassefeindes war, die Beatles zum Beispiel. Man konnte Bücher kaufen, die es in der DDR nicht gab. Und abends saßen wir dann manchmal in der Schwarzbierkneipe „U Flecků“ mit jungen Österreichern, Westdeutschen, Italienern und Amerikanern zusammen. Ich hatte noch nie Menschen aus diesen Ländern kennen gelernt. Und dann hat man miteinander geredet, gefeiert, man war sehr lebenslustig. Das Seltsame war: Man sah diesen jungen Leuten eigentlich die Probleme des Kapitalismus, in denen wir ja geschult waren, gar nicht richtig an. Ein Hauch von Freiheit, die Welt war offen und wir waren mitten drin.“
Herr Eggert, was waren Ihre Gedanken, wenn Sie jeweils zurückgereist sind in die DDR, nach Warnemünde?
„Zunächst habe ich ja die Diskussionen gar nicht so richtig verstanden. Sie waren für mich sehr abstrakt in Bezug auf Pressefreiheit, Pluralismus, Aufhebung der Zensur, Reisefreiheit. Und je öfter ich dann in Prag gewesen bin, um so näher kamen mir diese Dinge. Und ich empfand auch immer heftiger, wie stark reglementiert eigentlich alle öffentlichen Diskussionen in der DDR abliefen, das öffentliche Leben insgesamt. Mein Nachdenken, dass ja Reisefreiheit, Pressefreiheit oder Freiheit der Musik schon etwas sehr Verführerisches hatte, diese Gedanken wurden mir immer verständlicher.“
Dann kam die Schicksalsnacht: Der 21. August 1968. Wo waren Sie zu dem Zeitpunkt?
„In dieser Nacht hatte ich auf dem Stellwerk in Warnemünde Dienst als Fahrdienstleiter. Das war eine sehr laue Sommernacht, ich weiß das noch, eine sehr ruhige See. Und dann habe ich den Norddeutschen Rundfunk gehört, der natürlich verboten war in der DDR. Auf dem Stellwerk sowieso. Und ich hörte den Notruf aus Prag. Und dann liefen die ganze Nacht über Protokolle über das, was geschehen war. Es kamen Hilferufe aus Prag und ich war völlig verstört und habe aber auch sofort begriffen: Es ist für mich jetzt erst einmal Schluss mit Marta und es ist jetzt auch erst einmal Schluss mit den Reisen nach Prag. Im DDR-Rundfunk kamen erst am Morgen die ersten nichtssagenden Meldungen.“
Wie gings weiter?
„Um sechs Uhr war die Schicht zu Ende. Dann wurden wir alle zu einer Versammlung einbestellt. Der Parteisekretär der SED war mit dabei und dann wurde uns gesagt, dass die Konterrevolution in Prag abgeblockt werden sollte und die sowjetischen Genossen mit ihren Nachbar-Armeen dort eingerückt wäre, um die Konterrevolution zu bekämpfen. Und wir sollten alle unterschreiben, dass wir diesen Einmarsch begrüßen. Da ich viel besser informiert war, als die anderen und emotional viel tiefer getroffen war, habe ich mich damals geweigert zu unterschreiben.“
Wie waren die Reaktionen?
Die Reaktion war, dass bei mir dann zwei Tage später eine Hausdurchsuchung stattfand und - wie ich dann später feststellt habe - das erste Blatt meiner sehr umfangreichen Stasi-Akte zugefügt wurde und dass ich dann ab dem dritten Tag nicht mehr auf dem Bahnhof Warnemünde arbeiten durfte, weil ich politisch nicht mehr zuverlässig war. Ich wurde auf einen anderen Bahnhof versetzt.“
War Ihnen das alles klar, dass Sie für ein „Projekt“, das in einem anderen Land lief - Sozialismus mit menschlichem Antlitz - Ihre Kariere riskiert haben?
„Ich habe das eigentlich damals noch etwas anderes gesehen. Ich fand das nicht hinnehmbar, dass Sozialisten Sozialisten erschießen, dass auf Menschen geschossen wird, die den Sozialismus ja nicht abschaffen, sondern ihn verändern wollten, die ihn menschlicher machen wollten.“
Herr Eggert, ich könnte mir vorstellen, dass bei Ihrem familiären Hintergrund, Sie haben es erwähnt – Arbeiterfamilie - dass Ihre Mutter sicherlich sehr negativ überrascht war über Ihre Entscheidung?
„Also meine Mutter war regelrecht verzweifelt damals, weil sie der Meinung war, ich hätte meine Kariere verdorben und ich würde im Grunde im sozialistischen System nie wieder auf die Beine kommen. Aber nicht nur sie war der Meinung, sondern auch gute Freunde - bis dahin glaubte ich jedenfalls immer, dass es welche waren - haben sich dann an der Stelle von mir entfernt.“
Und was ist mit Ihrer Freundin Marta aus Prag geworden?
„Die ist dann bald mit ihren Eltern, weil sie verfolgt wurden, nach Kanada emigriert. Ich habe sie nie wieder gesehen und weiß auch nicht, was aus ihr geworden ist. Ich habe dann meine spätere Frau kennen gelernt. Und durch sie, weil sie auch aus einem christlichen Elternhaus kam, habe ich dann auch die Studentengemeinde kennen gelernt. Und es ist nicht der Heilige Geist, der mich dann dazu gebracht hat, zu überlegen, ob ich Theologie studiere, sondern es sind die Schriften von Dietrich Bonhoeffer gewesen, der sehr genau beschrieben hat, wie man in einer unmenschlichen Diktatur mit dem christlichen Menschenbild trotzdem menschlich leben kann. Das ist dann mein Thema gewesen.“
Heinz Eggert - vom Stellwerkmeister zum Studentenpfarrer in Zittau. Aus einem „Nein“ am 21. August 1968 wurde eine Lebensentscheidung gegen den Kommunismus. Dem so plötzlich Unangepassten, passten sich schließlich mit der Wende die äußeren Bedingungen an. Im Mai 1990 wurde Heinz Eggert Landrat in Zittau, von 1991 an war er für die nächsten vier Jahre sächsischer Innenminister. Heute ist Heinz Eggert Landtagsabgeordneter.