65 Jahre Münchner Abkommen - Historikertreffen in Prag - Teil II

Bereits vor einer Woche haben wir über die internationale Historikerkonferenz berichtet, die vor kurzem aus Anlass des 65. Jahrestages des Münchner Abkommens in Prag stattfand. In der nachfolgenden Sendereihe Begegnungen können Sie den angekündigten 2.Teil des Berichts hören, auch diesmal von und mit Jitka Mladkova:

Das Münchner Abkommen vom September 1938 und vor allem die Ereignisse, die ihm vorausgegangen waren bzw. folgten, stellen ein tragisches Kapitel nicht nur in der tschechoslowakischen bzw. tschechischen Geschichte dar, sondern auch in der europäischen insgesamt. Trotz des relativ großen Zeitabstands seit jenen Ereignissen wurde vieles noch nicht vollständig erforscht bzw. geklärt, vieles wird erst im Laufe der Zeit entdeckt. Ein gutes Stück Arbeit hat auf diesem Gebiet auch die tschechisch-deutsche Historikerkommission geleistet. Am Rande der erwähnten Prager Konferenz sprach ich, wie Sie bereits vor einer Woche hören konnten, mit dem Vorsitzenden des deutschen Kommissionsteils, Prof. Hans Lemberg von der Universität Marburg, über die Vorkriegstschechoslowakei und die deutsche Minderheit bzw. über deren Verhältnis zueinander. Darauf Bezug nehmend fragte ich ihn auch nach der Arbeit der gemischten Historikerkommission beim Umgang mit den oft auch kontroversen Themen:

Sie haben mittlerweile schon viele Erfahrungen mit der Arbeit der tschechisch-deutschen Historikerkommission gesammelt. Die deutsche Minderheit in der ehemaligen Tschechoslowakei und auch das Münchner Abkommen: das alles ist ein großes Thema, nehme ich an. Wie gelingt es - ich will nicht sagen die Stolpersteine, aber vielleicht die Streitfragen zu überwinden?

"Wir haben, wie Sie schon sagen, eine ziemlich lange Erfahrung, über zwölf Jahre eigentlich, mit unserer gemeinsamen Arbeit. Es hat sich bisher gezeigt, dass - ganz anders als in der öffentlichen Diskussion - die Streitfragen bei uns viel einvernehmlicher geklärt werden können, wenn sie denn überhaupt auftreten, weil eben die Wissenschaft an sich - ob nun deutsch, tschechisch, englisch oder wie auch immer - einen viel ruhigeren Gang hat. Sie kommt in ihren Beurteilungskriterien zwar nicht ohne Streit aus, aber immerhin liegt dieser Streit auf ganz anderen, nicht so grundsätzlichen Gebieten wie in der öffentlichen Diskussion, deren Position man weithin schon überwunden hat. Wir haben es also geschafft in einem gemeinsamen Text, der tschechisch und deutsch gleich lautend ist und auch viel Kompromissfreudigkeit gefordert hat, unser Bild der Entwicklung des deutsch-tschechischen Verhältnisses schon Mitte der 90er Jahre darzustellen. Das ist ja oft veröffentlicht worden, auch in fremde Sprachen übersetzt worden, und war sozusagen unser Kredo in dieser Hinsicht. Wir sind natürlich jetzt sehr daran interessiert, uns spezifisch auf bestimmten Gebiete zu vertiefen. Dazu hat das Münchner Abkommen bisher kaum gehört, weil es natürlich immer wieder, zu jedem Jubiläum, eine internationale Konferenz zu "München" gibt. Wir haben uns natürlich auch an denen immer wieder beteiligt. Also dieses München-Thema pflanzt sich sozusagen von selbst fort, dafür müssen wir selbst nicht viel tun. Wir haben andere Probleme, die dringender der Erforschung harren, als dieses schon weitgehend abgegraste Münchner Problem."

Zum Beispiel? Um welche Themen handelt es sich konkret?

"Das ist natürlich die ewige Frage der Vertreibungen, die auch immer wieder politisch hochgespielt wird. Wie sie sich - das war unser Anliegen - international vergleichen lässt, aber auch weiter zurückliegende Fragen. Wie z.B. schon der Charakter der Ersten Tschechoslowakischen Republik, oder noch weiter ins 19.Jahrhundert zurückgehende Themen, oder spezifische Probleme wie die Tschechoslowakei im internationalen System der Zwischenkriegszeit. Das hat natürlich auch mit München sehr viel zu tun, denn es lief zum Teil darauf hinaus, oder mündete dann auch in die Nachkriegszeit, den Antisemitismus und andere Dinge mehr."

Außerhalb der Historikerkommission gibt es, namentlich in Deutschland, kritische Stimmen zu hören, was die Einstellung des deutschen Teils der Kommission anbelangt. In dem Sinn, dass diese zu moderat ist. Wie gehen Sie mit diesen Meinungen um?

"Da haben Sie durchaus Recht. Das wird uns immer wieder vorgeworfen, teils gerechtfertigt, teils weniger gerechtfertigt. Ich kann dazu sagen, dass dem tschechischen Teil der Kommission der gleiche Wind von der anderen Seite ins Gesicht weht. Es sind immer wieder die, wie soll ich sagen, nationalradikaleren Teile der interessierten Öffentlichkeit, die lieber ihre hergebrachten oder mitgebrachten Ansichten bestätigt sehen möchten, als eine Revision dieser Ansichten, um die wir uns ja aufgrund der neuesten Forschungslage bemühen, zur Kenntnis zu nehmen. Insofern hält sich das die Waage, und wenn man von beiden Seiten gleichermaßen angegriffen wird, dann ist es vielleicht ein Indiz dafür, dass man in der Mitte einigermaßen richtig liegt."

Sehen Sie die Arbeit der Historikerkommission wie einen Lauf auf langer Strecke?

"Das ist durchaus der Fall. Es gibt Historikerkommissionen, die bekommen ihren Auftrag, wie etwa: Nun kümmert euch mal um den Ausgleich der bisherigen Streitigkeiten'. Die machen dann ihre Arbeit, machen nach ein paar Tagungen ein Kommunique, geben das Kommunique an die beiden jeweiligen Regierungen und die Sache ist beendet. Das hat es z.B. in der slowenisch-italienischen Historikerkommission gegeben. Da gibt es ein dünnes Büchlein und fertig. Wir haben sozusagen schon eine ganze Bibliothek veröffentlicht. Also wenn man das nebeneinander stellt, dann ist das vielleicht schon ein Meter, wenn nicht mehr. Es gibt auch immer wieder Beteiligungen an öffentlichen Diskussionen und an der Förderung von Nachwuchskräften durch Stipendien, die wir angeworben haben. Wir sind froh, dass es uns wieder gelungen ist, diese Stipendien für die nächsten drei Jahre zu verlängern. Und es sieht so aus, als ob wir noch nicht sagen könnten: jetzt ist Schluss. Man kann das bedauern, denn wir hätten dann mehr Zeit für anderes. Aber andererseits: solange die Diskussion noch so intensiv ist, und außerdem gerade jetzt, zu einem Zeitpunkt, an dem die Tschechische Republik in die Europäische Union kommt und wir sozusagen gemeinsame Inländer werden, wird das Thema noch einmal eine Welle von Arbeit erfordern. Es kann sein, dass wir dann sagen, genauso wie es keine bayrisch-niedersächsische Historikerkommission gibt, so wird es demnächst keine tschechisch-deutsche mehr geben, aber das Ende ist noch nicht ganz abzusehen."

Soweit Prof. Hans Lemberg von der Universität Marburg, Vorsitzender des deutschen Teils der tschechisch-deutschen Historikerkommission.

"Die traditionellen Formen der Beurteilung des Münchner Abkommens gelten nicht mehr", sagte mir in einem Gespräch ein anderer Teilnehmer der Historikerkonferenz, Prof. Jiri Pesek von der Prager Karlsuniversität. Die breite Öffentlichkeit nimmt das seiner Meinung nach noch nicht zur Kenntnis, weil sie die Fachliteratur nicht liest. Aber auch für Historiker, meint er, gibt es hierbei vieles zu entdecken. In Bezug auf das Geschehen der kritischen Jahre 1937 und 1938 sprach er z.B. über das Referat von Prof. Detlev Brandes von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf:

"Für mich war z.B. das Referat von Prof. Brandes außerordentlich interessant, der ausführlich das brutale Vorgehen der Sudetendeutschen Partei seit Anfang des Jahres 1938 in den Grenzregionen beschrieben hat, wie auch zugleich die Schwäche und eigentlich auch die mangelnde Bereitschaft der tschechoslowakischen Regierung, auf eigenem Territorium jene Ordnung zu schaffen, die aufgrund der Verfassung und Rechtsordnung der Tschechoslowakischen Republik garantiert werden sollte. In einer Antwort auf Anfrage von Prof. Lemberg antwortete Brandes: Ja, es ist fraglich, inwieweit man das Bemühen der Republik ernst nehmen soll, sich gegen die äußere Aggression zu wehren, wenn sie nicht nur nicht fähig, sondern eigentlich auch nicht willig war, gegen jene Aggression vorzugehen, die auf ihrem eigenen Gebiet stattfindet. Das ist also auch die Frage, in welchem Maße die damalige Tschechoslowakei bereit war, sich für die Sudetendeutschen Sozialdemokraten einzusetzen, die faktisch in hohem Maße die einzige Stütze der tschechischen Polizei im Grenzgebiet darstellten. Und gerade hier belegt Brandes anhand von Dokumenten des Staatlichen Zentralarchivs in Prag, die wir übrigens selbst nach dem Wendejahr hätten durchforsten können, dass die Polizei erst dann agierte, als sie eine Rückendeckung seitens der dortigen Sozialdemokraten hatte. Das sind also ganz neue Erkenntnisse. Damit, dass die Regierung die tschechoslowakisch orientierte deutsche Minderheit im Grenzgebiet nicht unterstützte, müssen wir uns auseinandersetzen, wir müssen das als Fehler betrachten, der traurig und tragisch war. Diese Leute waren bereit, gegen Deutschland und für die Tschechoslowakei zu kämpfen. Diesem Thema haben wir bisweilen wenig Aufmerksamkeit gewidmet und ich glaube, es verdient viel Interesse von Seiten tschechischer Historiker und Publizisten."