„Akce Míla“: Wer steckte hinter der Explosion 1962 auf dem Altstädter Ring?
Die „Akce Míla“, also die „Aktion Míla“, ist eine fast vergessene Episode in der Geschichte der kommunistischen Tschechoslowakei. Am 7. November 1962 ging mitten in der Kundgebung zum Jahrestag der russischen Oktoberrevolution im Prager Zentrum ein Sprengsatz hoch. Der Umstand, dass dabei niemand ernsthaft zu Schaden kam, half wohl dabei, diesen terroristischen Anschlag im Folgenden zu vertuschen. Die dennoch durchgeführten Ermittlungen kamen erst mehr als zehn Jahre später wieder in Gang, als sich ein angeblicher Mittäter stellte. Verurteilt wurde aber letztlich niemand.
Am Montag ist es genau 60 Jahre her, dass auf dem Altstädter Ring in Prag eine selbstgebastelte Bombe detonierte. Die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 waren in vollem Gange, der Platz voller Menschen. Dass es nur 29 Verletzte und nicht auch Tote gab, ist vermutlich dem Umstand zu verdanken, dass die Explosion abgedämpft werden konnte. Was weiter passierte, erläutert Milan Bárta vom Institut für das Studium totalitärer Regime im Gespräch mit Radio Prag International:
„Dieses Ereignis wurde tabuisiert und zensiert, in den Medien gab es darüber keine einzige Nachricht. Die Explosion schreckte aber die Führung der kommunistischen Partei auf, und sie ordnete sofort eine polizeiliche Untersuchung an. So wurde mit der Suche nach dem Täter begonnen. Diese führte aber nicht zum Erfolg, und der Fall wurde zu den Akten gelegt.“
Die Ermittlungen wurden zu der Zeit noch unter dem Namen „Akce výbuch“, also „Aktion Explosion“ geführt. Und dies mit so wenig öffentlicher Aufmerksamkeit wie möglich. Denn das kommunistische Regime sollte als unerschütterlich und unangreifbar gelten, begründet Bárta. Den Zeugen und Verletzten sei gesagt worden, eine Autobatterie sei hochgegangen…
„Niemand hat zu dieser Zeit wohl damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte. In der Tschechoslowakei hatte es 1948 den kommunistischen Umsturz gegeben, und einige Jahre später begannen die Aktivitäten des sogenannten dritten antikommunistischen Widerstands. Dazu gehörten auch gezielte Anschläge mit sogenannten Höllenmaschinen, die zumeist auf Büroräume der kommunistischen Partei abzielten. Anfang der 1960er Jahre sah die Lage allerdings ganz anders aus. Die potentielle oder tatsächliche Opposition war entweder ins Ausland vertrieben oder aber hierzulande durch Verurteilungen und Inhaftierungen unter Kontrolle gebracht worden. Der Staat hatte sich offiziell in eine sozialistische Republik verwandelt. Es lässt sich also sagen, dass sich die kommunistische Führung in relativer Sicherheit wog und keinen größeren Widerstand mehr erwartete.“
Diese vorgebliche Ruhe wurde am 7. November 1962 gestört. Historiker Bárta beschreibt den Vorgang genauer:
„Benutzt wurden zwei Rucksäcke – einer mit zwei Trageriemen für den Rücken, der zweite eher eine Umhängetasche. Beide enthielten Sprengstoff, in jeder Tasche waren jeweils etwa 250 Gramm Schießpulver platziert. Der eine Rucksack explodierte. Da es sich um eine große offizielle Feier handelte, waren überall Angehörige der Volksmilizen und der Staatssicherheit vor Ort. Der zweite Rucksack wurde darum schnell von Zeugen und Sicherheitsbeamten unschädlich gemacht und in ein Wasserbecken geworfen. Dadurch hatten Pyrotechniker danach die Möglichkeit, die Tasche zu untersuchen und festzustellen, wie die Sprengkörper hergestellt worden waren.“
Gefunden wurde ein Metallrohr, das Schießpulver enthielt. Selbiges stammte den Expertenmeinungen von damals zufolge aus Eigenherstellung. Daraus folge, so Bárta, dass die Bombe von jedermann hätte hergestellt werden können. Diese Theorie würde gestützt von der Tatsache, dass der Anschlag auf dem Altstädter Ring eine Einzeltat blieb, zu der sich auch niemand bekannte. Und weiter der Historiker:
„In der damaligen Atmosphäre ging man natürlich von einer Terrortat aus, die sich gegen den Staat und die politische Führung richtete. Darum nahm sich die Staatssicherheit der Ermittlungen an. Da in den 1960er Jahren aber schon gewisse Lockerungen wirkten, wurde auch die Kriminalpolizei zugelassen. Zu der Zeit liefen also zwei parallele Untersuchungen, die in einer Art Konkurrenz zueinander standen. Die Staatssicherheit versuchte, den Kontext einer staatsfeindlichen Verschwörung mit Verstrickungen von ausländischen Geheimdiensten zu konstruieren. Die Polizei hingegen konzentrierte sich eher auf kriminelle Delikte und ging auch hier von einer gewöhnlichen Straftat aus. Keine der Spuren führte aber zur Aufklärung.“
Zwielichtiger Zeuge
Somit wurden die Akten geschlossen. Über zehn Jahre später kam aber wieder Bewegung in die Sache. 1974 stellte sich ein gewisser Petr Popelka der Staatssicherheit in Prag. Milan Bárta beschreibt ihn als eher zwielichtige Person. Popelka habe in den Jahren zuvor als Informant für die Polizei gearbeitet und eine nicht ganz saubere Akte gehabt, wie es der Historiker ausdrückt. Daher sei es möglich, dass er nun auch von polizeilichen Stellen angehalten worden sei, sich als Mittäter des Bombenanschlags zu melden.
„Die Verhöre verliefen sehr unsystematisch. Popelka änderte mehrfach seine Aussagen und erinnerte sich angeblich nicht daran, wie die Bombe zusammengesetzt war – obwohl er angab, sie gebaut zu haben. Immer musste er angeleitet werden in seinen Angaben darüber, wie alles abgelaufen ist. Allmählich begann er aber, die Namen seiner Mittäter zu nennen. So entstand das Bild einer fünfköpfigen Gruppe, gegen die ein Jahr später Anklage beim Gericht erhoben wurde.“
Als Haupttäter wurde demnach ein Mann namens Miloslav Blecha ausgemacht. Und die im Tschechischen gängige Abkürzung für seinen Vornamen gab der Ermittlungsakte ihren neuen Namen: „Akce Míla“ (Aktion Míla). Míla Blecha war 1968 nach Kanada emigriert...
„Schon vorher hat er Probleme mit der Staatssicherheit gehabt, die ihn einer antisozialistischen Haltung beschuldigte. Es gab also eine Akte über Blecha, er wurde beobachtet und stand unter der Kontrolle der Staatssicherheit. Damit eignete er sich als Kopf der Verschwörung. Die anderen Beschuldigten waren alle sehr jung. Petr Popelka selbst war 1962 erst 16 Jahre alt. Darum wurde überlegt, wie er sich dem Fall entledigen könnte. Also wurde Blecha als Anführer der Verschwörung ausgemacht, denn er war älter und mit einer kriminellen Vergangenheit belegt.“
Blechas aktueller Aufenthaltsort war bekannt, weil die Staatssicherheit seine Briefe an seine Schwester abfing. Einem Auslieferungsgesuch des tschechoslowakischen Innenministeriums an Kanada wurde aber nicht entsprochen. Ob Blecha überhaupt wusste, dass er in Prag in Abwesenheit angeklagt war, darüber ließe sich heute nur spekulieren, meint Milan Bárta.
Mögliche Todesstrafe
Die anderen drei von Popelka Beschuldigten wurden festgenommen und verhört. Über ein mögliches Strafmaß bemerkt der Historiker:
„Ein Terroranschlag gehörte damals zu den schlimmsten Straftaten, und es galten hohe Sanktionen. Dafür drohten zehn bis 15 Jahre Gefängnis und im äußersten Fall auch die Todesstrafe. Damit galt dies auch in der damaligen Zeit als sehr schwere Tat.“
Ob für den Anschlag von 1962 tatsächlich die Todesstrafe verhängt worden wäre, sei jedoch fraglich, da die Detonationen mehr oder minder vereitelt werden konnten, fügt Bárta an. Zu diesen Erwägungen kam es aber gar nicht, als das Prager Stadtgericht 1975 die Anklage gegen die Fünfer-Gruppe verhandelte...
„Der Richter verkündete mit Bezug auf das vorgelegte Material, dass die Beweise nicht genau seien und keine komplette Linie ergaben. Daher war es nach seiner Ansicht nicht möglich, die Angeklagten auf dieser Grundlage zu verurteilen. Sie wurden also von allen Vorwürfen freigesprochen. Das konnte die Staatssicherheit so nicht hinnehmen, und der Prokurator legte Einspruch ein. Damit ging der Fall erneut vor Gericht, aber das Ergebnis war das gleiche. Keiner von den Angeklagten wurde verurteilt.“
Dies sei immerhin ein Hinweis darauf, dass selbst die vom Regime manipulierten Gerichte bei politischen Prozessen eine sichere Beweislage benötigten, fügt Bárta an.
Anschläge mit selbstgebauten Bomben habe es auch in der späteren Tschechoslowakei noch gegeben, berichtet Milan Bárta. Kurz vor der Wende sei es Ende der 1980er Jahre wiederholt zu Explosionen vor Büros der kommunistischen Partei gekommen – etwa vor den Kreissekretariaten in Ústí nad Labem / Aussig oder auch in Südböhmen. Die Sprengsätze seien aber immer so platziert worden, dass nur Gebäude oder kommunistische Symbole beschädigt, aber keine Personen verletzt wurden. Die Täter wurden den Worten des Historikers zufolge nie gefasst.
Der Regimewechsel von 1989 sowie modernere Ermittlungsmethoden hätten auch später kein Licht in die „Akce Míla“ gebracht, resümiert Bárta:
„Nach 1990 wurde die Akte erneut geöffnet. Diesmal wurde aber nicht mehr nach dem Täter gefahndet, denn der Fall war offiziell abgeschlossen. Jetzt konzentrierte man sich auf die Ermittlungen in den 1970er Jahren, die Beschuldigungen der angeblichen Täter und das Vorgehen der Staatssicherheit. Aber auch diese Untersuchung brachte keine neuen Spuren.“
Damit bleiben die Fragen nach den Attentätern vom 7. November 1962 und deren eigentlicher Motivation auch heute noch unbeantwortet.