„Als ob dieses Leben wieder auferstünde“ – Historikerin Winkelhofer beschäftigt sich mit dem Adel

Adelige begrüßen den Kaiser

In einem Gespräch mit der Historikerin Martina Winkelhofer tauchen wir in die Zeit ein, die der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik vorausgegangen ist. Es ist die Zeit der Habsburger Monarchie, die „Welt von Gestern“ (wie sie von Stephan Zweig in seinem Memoirenbuch genannt wurde) mit ihrer gesellschaftlichen Hierarchie und ihren Werten und Normen, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 untergegangen sind. Frau Winkelhofer ist eine Spezialistin für die Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Geschichte des Adels und des kaiserlichen Hofs in Wien. Sie hat kürzlich einen Vortrag in Prag gehalten und aus diesem Anlass auch dem Tschechischen Rundfunk ein Interview gegeben.

Martina Winkelhofer  (Foto: YouTube)
Frau Winkelhofer, als ich klein war, wollte ich Prinzessin werden. War das bei Ihnen ähnlich?

„Es war haargenau so. Ich denke, ich war vier Jahre alt, als ich Prinzessin werden wollte. Und irgendwann habe ich mich dafür interessiert, wie das Leben von Prinzessinnen wirklich ausgesehen hat.“

Und heute, wenn Sie über die Adelsfamilien in Österreich-Ungarn fast alles wissen, möchten Sie immer noch zum Beispiel eine Habsburger Prinzessin sein?

„Eine Habsburger Prinzessin vielleicht nicht, aber vielleicht eine Prinzessin des böhmischen Adels, weil die doch ein bisschen weniger unter diesem medialen Brennglas gelebt haben. Es war vielleicht ein bisschen leichter.“

Habsburger  (Foto: Martina Schneibergová)
Können Sie sich noch an den Augenblick erinnern, als Sie entschieden, sich systematisch mit der Geschichte des Hofes, den Habsburgern und der Politik am Hof des 19. Jahrhunderts beschäftigen, diese zu erforschen?

„Ja, daran kann ich mich ziemlich genau erinnern, und zwar deshalb, weil es überhaupt keine Literatur gegeben hat. Ich habe mich gefragt, was damals passiert ist, in diesem 19. Jahrhundert am Hof. Es war mir auch völlig neu, dass es gar keine Untersuchungen gab. Dadurch war so ein bisschen das Feuer geweckt, um mich auch wirklich selbst damit zu beschäftigen. Nach diesem Anfang habe ich einfach immer weiter geforscht.“

Wappen Österreich-Ungarns
Stellen wir uns jetzt vor: Wie wäre es, wenn wir heute zusammen in der Monarchie leben würden. Würde es uns gut gehen?

„Das kommt ganz darauf an, welche Position wir einnehmen würden. Würden wir zu den oberen zehn Prozent gehören, würde es uns wahrscheinlich sehr gut gehen. Würden wir zu den anderen gehören, würde – glaube ich – niemand von uns tauschen wollen. Was man natürlich nicht vergessen darf: Das Leben an sich, das soziale und gesellschaftliche Leben war damals sicher schwieriger. Was für uns heute sehr interessant ist, der Individualismus zum Beispiel, das war damals kein Thema. Man hat für seine gesellschaftlichen Pflichten gelebt. Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass diese Leute damals ihrem Vergnügen nachgegangen sind, sondern sie befanden sich in einem sehr engen und strengen Korsett von Verpflichtungen. Das muss man dringend betonen. Aber der äußere Rahmen war natürlich extrem prächtig.“

Schloss Zákupy  (Foto: VitVit,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Stellen Sie sich überhaupt heute die Frage, wie es wäre, wenn die Habsburger noch heute in Österreich-Ungarn regieren würden?

„Eigentlich nicht. Das Thema stellt sich überhaupt nicht. Ich könnte mir auch gar nicht vorstellen, in welcher Form sie das überhaupt tun sollten. Denn die Monarchien, die es noch gibt, dienen nur noch Repräsentationszwecken.“

Tausende Menschen haben in diesem Jahr Schloss Konopiště und Schloss Zákupy / Reichstadt besucht, und zwar wegen der Ereignisse des Jahres 1914. Wie haben Sie mit dem hundertsten Jahrestag seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschäftigt?

„Ich habe mit großer Spannung diese Flut an Büchern verfolgt. Ich habe mich ziemlich eingelesen und fand es vor allem spannend, wie unterschiedlich man heute, nach hundert Jahren, zum Teil den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sieht. Es gibt die unterschiedlichsten Richtungen.“

Kaiser Franz Joseph
Was ist an der Familie der Habsburger so interessant und außerordentlich, dass Sie sich diesem Adelsgeschlecht so intensiv widmen?

„Für mich war es vor allem die Person von Kaiser Franz Joseph, die mich ziemlich interessiert hat, und generell kommt man natürlich in Wien an den Habsburgern nicht vorbei. Bei Kaiser Franz Joseph hat mich eben besonders interessiert, wie dieser Mensch hinter diesem Klischee, das wir heute in Österreich kennen, wirklich ausgesehen hat. Wenn wir in Österreich an den Kaiser denken, denken wir immer an diesen alten Herr, der mit seinem Gugelhupf irgendwo sitzt, mit der Kaiserin an seiner Seite, und da wollte ich ein bisschen fragen, wie war er zum Beispiel als Vorgesetzter beim Hof.“

Haben Sie etwas Neues über Franz Joseph herausfinden können? Etwas, das ihn außerordentlich gemacht hat in dem Kontext, den wir heute kennen?

„Am meisten fasziniert mich, wie er als Vorgesetzter war. Ich finde es zum Beispiel hoch spannend, dass der Kaiser per se niemanden entlassen hat. Sie müssen sich vorstellen, am Wiener Hof haben 4000 bis 4500 Menschen gearbeitet, und es gab kaum Entlassungen. Das fand ich deshalb so interessant, weil sich in den Akten unglaublich viele Beschwerden darüber finden, wie schlecht die Arbeit funktioniert habe oder dass die Leute zum Teil zur Arbeit nicht erschienen seien. Ich habe mich dann gefragt, wie beide Dinge miteinander in Einklang zu bringen waren. Da bin ich darauf gekommen, dass es etwas mit dem Selbstverständnis des Kaisers als oberstem Herr seines Hauses zu tun hat. Der Kaiser hatte das Selbstverständnis, dass alle Menschen, die für ihn arbeiten und eine Position am Hof haben, ein Teil seines Hauses seien und er Verantwortung für sie habe. Das heißt, er konnte sie nicht entlassen, weil sie sonst für sich selbst verantwortlich gewesen wären. Diesen Aspekt fand ich unglaublich interessant.“

Adelige begrüßen den Kaiser
Österreich-Ungarn hatte im 19. Jahrhundert etwa 52 Millionen Einwohner. Wie hoch war der Anteil der Adeligen?

„Er war winzig klein. Nur ein Prozent von diesen 52 Millionen konnte zum Adel an sich gezählt werden – und davon nur etwa 400 Familien zur wirklichen Aristokratie.“

Wie konnte man eigentlich adelig werden?

„Adelig werden konnte man in dem Sinn nicht, man konnte nur in die Aristokratie hineingeboren werden. Zu den Aristokraten zählten nur jene, die die berühmten 16 hochadeligen Ahnen hatten. Das heißt, sie mussten nachweisen, dass bis zu ihren Urgroßeltern von beiden Seiten alle einzelnen Mitglieder ihrer Familie bereits Hochadelige gewesen waren.“

Adelstitel
Verstehe ich es richtig, dass man sich einen Adelstitel nicht kaufen konnte? Oder konnte man den Titel vielleicht für besondere Verdienste erwerben?

„Sie konnten sich keinen hohen Titel ‚kaufen‘, da mussten sie hineingeboren werden. Aber wie es halt so üblich war, im Alten Österreich gab es für alles einen Ausweg. Das heißt, sie konnten sich einen niederen Adelstitel ‚kaufen‘. Das hieß so, weil man für Wohltätigkeitszwecke sehr viel Geld gespendet hat, wir reden da von mehreren Millionen, und dann hat man den Kaiser überredet, dass er einem einen sehr niedrigen Adelstitel verleiht.“

Welche Unterschiede bestanden zwischen dem böhmischen und dem mährischen Adel in Österreich-Ungarn zu Ende des 19. Jahrhunderts?

„Der erste große Unterschied war, dass der böhmische Adel viel reicher war. Er hatte viel größere Besitzungen. Wenn man im Alten Österreich vom reichen Adel gesprochen hat, war das immer der böhmische Adel. Und der zweite große Unterschied war die politische Zuordnung, und das finde ich sehr interessant: Der böhmische Adel wurde als konservativ bezeichnet. Damals hieß konservativ, dass man föderalistisch war. Der böhmische Adel hat sehr auf die Autonomie Böhmens gepocht, während der mährische Adel immer der konstitutionellen Partei zuzuordnen war. Das waren die Zentralisten innerhalb dieses Staates.“

Wappen der Fürsten von Schwarzenberg
Wer wurde eigentlich unter den Aristokraten als wirklich reich betrachtet?

„Das sind genau zwei Familien. Das sind die Familie Schwarzenberg in Böhmen und die Familie Liechtenstein in Mähren. Das waren wirklich die Milliardäre, muss man sagen. Wenn man solch ein Ranking aufstellt, würden diese beiden Familien den ersten Platz einnehmen, dann würde bis zu den anderen Familien lange nichts kommen.“

Wo haben die Aristokraten ihren Lebensunterhalt erworben, womit haben sie Geld verdient?

„Ganz wichtig ist: Ein Aristokrat ging natürlich nicht arbeiten. Das gehörte sich einfach nicht. Sie haben von ihrem Eigentum gelebt. Das heißt, Grundlage des Familieneigentums waren die riesigen Güter, die die Adligen verwaltet haben, wo sie Forstwirtschaft hatten, Landwirtschaft, alles Mögliche. Ein paar von ihnen waren sogar Investoren.“

Sankt Petersburg
Die Adeligen waren oft auch Diplomaten. Wurden sie für ihre diplomatischen Dienste bezahlt, oder war dies eine Prestigeangelegenheit?

„Sie mussten unglaublich viel Geld zahlen, um als Diplomat irgendwohin gehen zu können. Damals musste der Diplomat alle Auslagen selbst tragen. Das bedeutete natürlich, nur die allerreichsten Familien konnten es sich überhaupt leisten, dass eines ihrer Mitglieder auf einem der großen Posten in London, Paris oder Sankt Petersburg saß.“

Foto: Wolfgang Sauber,  CC BY-SA 3.0
Wer hat in den Adelsfamilien in Geldangelegenheiten entschieden? Ich nehme an, dass das überwiegend die Männer waren. Gab es aber auch gewisse Frauen?

„Es waren in der Regel natürlich die Männer. Es sei denn, die Frauen kamen selbst aus extrem reichen und einflussreichen Familien. Da können wir nachweisen, dass es sogar Ehekontrakte gab, die besagten, dass die Frauen sogar ihre eigenen Konten hatten. Das heißt, je höher die Herkunft der Frau war, desto selbständiger war sie auch, was ihr eigenes Vermögen betraf.“

Was könnte uns, Ihrer Meinung nach, heute aus den früheren Zeiten inspirieren. Wozu könnten oder sollten wir zurückkehren?

Foto: Neelix,  Free Domain
„Ich würde sagen, wenn, dann nur zu gesellschaftlichen Werten, weil alles andere einfach nicht mehr vergleichbar ist. Wir haben heute ein Lebensumfeld, das gegenüber dem 19. Jahrhundert wunderbar ist. Was ich persönlich sehr interessant finde, gerade wenn man einen Vergleich zu heute zieht, dass zum Beispiel der Individualismus, den wir heute als sehr erstrebenswert betrachten, damals kein Thema war. Man hat sich mehr als Mitglied seiner Gesellschaft, seines Standes, seiner Familie gesehen, hat sich ein bisschen zurückgehalten, und ich glaube, dass es den Leuten das Leben auch vereinfacht hat. Man drängte sich nicht so vor, es ging mehr um das Miteinander.“

Sie erforschen Dokumente zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, und zwar sowohl aus staatlichen als auch aus privaten Archiven. Wie schwer ist es, Privatpersonen zu überzeugen, dass sie ihre Bibliotheken und Familienarchivbestände für Sie zugänglich machen?

Foto: Tom Murphy VII,  Wikimedia CC BY-SA 3.0
„Es gar nicht so schwer. Die meisten Familien interessieren sich für die Geschichte ihrer Familie, und wenn man so ein bisschen miteinander kam, ist das gar keine Frage.“

Was ist für Sie an Ihrer Arbeit am interessantesten: die Forschungsarbeit, bei der Sie im Archiv sitzen und in alten Büchern und Dokumenten blättern, oder macht es Ihnen mehr Spaß, mit Studenten an der Universität zu sein und Ihre Forschungsergebnisse ihnen zu vermitteln?

„Für mich ist es die Forschungsarbeit. Sie müssen sich vorstellen, wenn man zum Beispiel die Korrespondenz einer Person, die längst verstorben ist, durchgeht, dann ist es so, als wenn da dieses Leben wieder auferstehen würde. Es tut sich Ihnen dabei eine Welt auf. Und das ist unglaublich spannend.“

Foto: Amalthea Verlag
Bisher sind zwei Ihrer Bücher auch in tschechischer Übersetzung erschienen, und zwar „Viribus unitis. Der Kaiser und sein Hof“ und „Adel verpflichtet. Frauenschicksale in der k. u. k. Monarchie“. Schreiben Sie jetzt ein neues Buch?

„Ja, ich schreibe gerade wieder ein Buch, das Ende des Jahres in Österreich erscheinen soll. Diesmal wird es um Königshäuser in einem europäischen Überblick gehen, und vor allem um die Frage der aufkommenden Massenmedien. Denn als Ende des 19. Jahrhunderts die Zeitungen aufkamen, wurden auch Königshäuser beobachtet, und das ist eine Frage, die mich sehr interessiert.“

Sie haben vorhin über die Pflichten des Adels gesprochen. Kann man in dem Fall sagen, dass die Hochzeit des 1914 ermordeten österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand d’Este und Sophie Chotek einer der größten individualistischen Momente in der Geschichte des Adels war?

Franz Ferdinand d’Este
„Definitiv. Das wäre eigentlich der Anfang von sehr viel mehr gewesen. Und was hier sehr interessant ist, dass sich ja der Thronfolger über diese starken Gesetze hinweggesetzt hat. Das war nicht irgendjemand. Man darf nicht vergessen: Er hat jahrelang gekämpft und war, was das betrifft, ein ziemlicher Vorreiter. Ich finde besonders schön, dass gerade diese Ehe eine der glücklichsten in dieser ganzen sechshundertjährigen Geschichte der Habsburger war.“

Sie befassen sich jetzt mit den Medien am Ende des 19. Jahrhundert. Ich könnte mir vorstellen, dass gerade die Liebe zwischen Franz Ferdinand und Sophie ein großes Thema für die damaligen Journalisten gewesen sein könnte?

Hochzeit Franz Ferdinands mit Sophie Chotek
„Das war es aber gar nicht, und zwar aus dem Grund, weil Franz Ferdinand so furchtbar unsympathisch war. Er war nach außen keine sympathische Persönlichkeit, was umso interessanter ist, weil er in seinem Familienleben der reizendste Mensch überhaupt war. Man hat also wenig über ihn geschrieben, über die Hochzeit wurde generell nicht geschrieben, weil sie ja unstandesgemäß war, das setzte in Österreich erst später ein. Ich finde daran sehr interessant: Franz Ferdinand gehörte zu den unbeliebtesten Habsburgern seiner Zeit, hat aber andererseits ein Familienleben geführt, das – wenn man das öffentlich gemacht hätte – ihm unglaublich viel Sympathie eingetragen hätte. Weil es eben so bürgerlich war.“

Schloss Konopiště  (Foto: CzechTourism)
Sie sind häufig in der Tschechischen Republik und haben schon viele Orte besucht, darunter auch das Schloss Konopiště, das ein beliebter Aufenthaltsort von Franz Ferdinand d’Este war. Gibt es noch eine Burg, ein Schloss, ein Ort, etwas, das sie gerne noch besuchen und entdecken möchten?

„Ja, so ungefähr hundert Orte, weil es hier ja so unglaublich viele Schlösser gibt. Ich persönlich möchte am liebsten alles sehen. Ich hoffe, es wird sich in den nächsten zehn Jahren ausgehen. Ich hoffe, dass ich noch ganz viel erforschen kann und es sehr viel sein wird zur österreichisch-tschechischen Geschichte. Und ich hoffe, dass ich natürlich die Verbindungen, die ich jetzt zu Freunden in der Tschechischen Republik habe, weiter ausbauen kann.“