Bilder einer Gesellschaft im Wandel – der Fotograf und Augenzeuge Zdeněk Tmej

Zdeněk Tmej: Selbstporträt mit Kamera, 1943/1944 (Archiv B&M Chochola)

Wer sich ein Bild vom Zustand der Gesellschaft verschaffen will, kann dies auf unterschiedliche Weise tun: zum Beispiel eine soziologische Studie in Auftrag geben oder ein aktuelles Buch lesen. Meist reicht es aus, mit wachen Augen das Tagesgeschehen zu beobachten. Ein solcher „Augenzeuge“ war der im Jahr 1920 geborene und 2004 verstorbene tschechische Fotograf Zdeněk Tmej. Der gelernte Fotoreporter hielt in seinen Bildern die Wirklichkeit anspruchsvoll und mit hoher technischer Präzision fest. Dabei scheute er sich nicht vor solchen Bildern, vor denen andere die Augen schlossen. Sein Fotozyklus „Alphabet der seelischen Leere“ über die Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Deutschland entstand in den 40er Jahren. Diese Dokumentation legt ein einmaliges Zeugnis von einer Gesellschaft im Ausnahmezustand ab.

Im Jahr 1942 erreicht den gerade 22-jährigen Zdeněk Tmej der Bescheid, dass er zum „Totaleinsatz“ für die deutsche Kriegswirtschaft einberufen wird. Für den jungen Mann bricht, wie für Tausende seiner Altersgenossen, eine Welt zusammen. Noch viele Jahre später erinnert sich Tmej:

„Die Geschichte begann sich so schnell zu drehen, und ich mich mit ihr, dass ich mich praktisch bis heute nicht davon erholt habe.“

Im September 1942 kommt Tmej nach Breslau, wo er als Hilfsarbeiter für die Bahnpost Eisenbahnwaggons entladen muss. Mit im Gepäck hat er zwei Kameras. Aus Prag lässt er sich weiteres Zubehör nachschicken. Er richtet sich eine Dunkelkammer ein und beginnt das Leben im Zwangsarbeitslager festzuhalten. Der gelernte Fotoreporter Tmej wird Augenzeuge einer Wirklichkeit, die sich vollkommen von dem unterschied, was er bis dahin kannte.

Bis dahin hatte Zdeněk Tmej trotz seines Alters bereits reiche Erfahrungen mit dem Fotografieren in der tschechoslowakischen Vorkriegsgesellschaft gemacht. Schon während seines Studiums an der Staatlichen Grafikschule in Prag wurde sein besonderes Talent entdeckt, wie Petr Vilgus, Experte für die Geschichte der Fotografie, bestätigt:

„Tmej begann mit dem Fotografieren im Rahmen seiner Assistenztätigkeit bei dem bekanntesten und bedeutendsten tschechischen Fotoreporter: Karel Hájek. Bereits im Alter von 15 Jahren wurde er dessen Assistent und lief mit Tonnen von Filmrollen in das Fotolabor, um sie entwickeln zu lassen. Bereits mit 16 Jahren veröffentlichte er seine ersten eigenen Fotografien. Mit 18, 19 Jahren gehörte er zu den sehr aktiven Fotografen.“

Mit dem Handwerk der Fotoreportage erlernte Tmej die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe eines Geschehens. Die Technik erlaubte es damals noch nicht, aus einer Vielzahl von Negativen auszuwählen. Tmej übte sich darin, genau hinzusehen und abzuwägen, um ein aktuelles und zugleich qualitativ hochwertiges Bild festzuhalten.

Dieser Sorgfalt bei der Auswahl der Motive ist es zu verdanken, dass die Bilder Tmejs bis heute eine starke Aussagekraft über die Gesellschaft jener Zeit haben. Anders als die inszenierten Bilder seiner Fotografenkollegen Václav Chochola und Karel Ludwig versuchte der junge Tmej das Geschehen möglichst authentisch wiederzugeben. Bereits in seinen Fotoserien für die Wochenzeitung „Pestrý týden“ (Bunte Woche) gelingt es ihm, die Welt der Kunst, des Tanzes und der Musik in all ihrer Bewegung festzuhalten. Tmej vermittelt in seinen Fotos einen lebendigen Eindruck vom kulturellen Leben jener Zeit, was keine Selbstverständlichkeit war. Petr Vilgus:

„Konkret sind es die Fotoserien, die weder damals noch heute üblich waren, und die für das wertvolle Vorgehen Tmejs bezeichnend sind. Es ist nicht üblich, vier Fotografien aus einem Geschehen auszuwählen und aus ihnen eine Geschichte zu machen. Das ist gleich in zweierlei Hinsicht außergewöhnlich. Zum einen, weil Tmej auf diese Weise konzipierte, und zum anderen, dass er den Bildredakteur der Zeitung davon überzeugen konnte, nicht nur eine, sondern gleich alle vier Fotografien zu veröffentlichen.“

Der Zweite Weltkrieg bringt das Aus für die bewegte tschechoslowakische Kultur und eine unabhängige Berichterstattung. Die Bilder Tmejs während seiner Zeit im Zwangsarbeitslager in Breslau geben Einblick in eine ganz andere Gesellschaft: eine, die tief traumatisiert und ihrer eigenen Seele beraubt ist. Anna Fárová, die sich der Geschichte der Fotografie widmet, schreibt dazu im Vorwort zum Fotoband „Zdeněk Tmej“ aus dem Jahr 2001:

„Es ist ein Zeitdokument über die extreme Notlage einer Generation, die aus ihren natürlichen menschlichen und beruflichen Lebensbahnen herausgerissen und in eine entfremdete, körperlich und seelisch erschöpfende Situation versetzt wurde. Innerhalb von zwei Jahren entstand eine Folge von etwa zweihundert formal und thematisch homogenen Aufnahmen. In deutschen Arbeitslagern wurden junge Menschen zwangseingesetzt als billige Arbeitskräfte, seelisch verstümmelt. Tmejs Fotoreportagen-Essay schildert das Leben in einem geräumigen Saal mit einem Hitlerportrait an der Stirnwand und einem Hradschin-Panorama in den Fenstern. Der spärlich wärmende Ofen, in dessen Nähe es stets lebendig zugeht, zerrissene Kleidung, ärmliche Kost, zerschlissene Matratzen mit hervorquellendem Stroh, schwarze Augenbinden der Schläfer, Kerzen, angeschlagenes Kochgeschirr, gesammelte Zigarettenstummel, das alles sind episch geladene Details. Mit Tmejs Augen tasten wir die Fundamente eines entleerten Lebens ab, das nach verrichteter Arbeit nur aus Schlaf, Essen und sinnlosem Zeitvertreib besteht.“

Tmejs einzigartige Fotografien ist es zu verdanken, dass wir heute die unmenschlichen Lebensbedingungen im Alltag der Zwangsarbeiter vor Augen haben. Tmej selbst begleiteten die inneren Bilder sein Leben lang. Nach dem Krieg scheut er sich nicht, die Schrecken der Konzentrationslager nachträglich zu dokumentieren. Zusammen mit seinen Kollegen reist Tmej im Juni 1945 durch das zerstörte Deutschland. In Bergen-Belsen stiehlt man ihm aber Filme und Kamera. Keine der Fotografien aus dieser Serie ist bisher wieder gefunden worden.

Seiner Fotoausrüstung und aller Illusionen beraubt, kehrt Tmej nach Prag zurück. Doch die kommunistisch beherrschte Gesellschaft, die er nach 1948 antrifft, braucht keinen, der allzu genau hinsieht. Anfangs setzt Tmej seine Arbeiten für das Nationaltheater fort und kommt dank eines Freundes beim Film unter. Den kommunistischen Machthabern bleibt indes nicht verborgen, dass Tmej ein anderes Gesellschaftsbild vertritt, als jenes, das von der offiziellen Kulturpolitik erwünscht wird. Die Macht des Bildes, vor allem eines, das die Wirklichkeit unmanipuliert wiedergibt, stellte für das System eine Gefahr dar. Sie fabriziert ihre eigenen Bilderserien, so Petr Vilgus:

„Die Fotografie war für den Kommunismus ein sehr wichtiges Medium. Bereits Lenin in der Sowjetunion hatte verstanden, dass es leichter ist den Menschen, die nicht lesen und schreiben können, einen Film oder ein Bild zu zeigen und dass ein Bild in der Lage ist, die Masse der Leute zu überzeugen.“

Um sich ganz sicher zu sein, dass Tmej seine Kamera nicht regimefeindlich ausrichtet, lassen ihn die kommunistischen Machthaber im Oktober 1958 verhaften und zu acht Jahren Gefängnis verurteilen. Nach sieben Jahren Haft mit Zwangsarbeit im Uran-Bergbau wird Tmej 1965 entlassen. In den 70er Jahren arbeitet er als Fotograf in der Werbeindustrie – doch ohne großen Erfolg. Den scharfen Blick auf die Wirklichkeit der Gesellschaft behielt Tmej sicherlich sein Leben lang, doch den Mut, ihn auf Fotopapier zu bannen, den hatte man ihm genommen.