Brief für Marta
Im April haben wir unsere neue Sendereihe Buch.cz mit einem Beitrag über die Reportagensammlung „Gottland“ gestartet. Der polnische Autor Mariusz Szczygieł erzählt darin bemerkenswerte Geschichten aus Tschechien und der ehemaligen Tschechoslowakei. Viele davon ziehen sich über Jahre und Jahrzehnte hin, wie etwa die Geschichte der Sängerin Marta Kubišová. Szczygiełs Buch wurde zum Verkaufsschlager, dennoch bedauert der Autor vielleicht gerade, dass es bereits erschienen ist. Diese Woche nämlich wurde die Geschichte Kubišovás um ein bemerkenswertes Kapitel länger.
In den sechziger Jahren war Marta Kubišová mit dem Lied „Modlitba“, zu Deutsch „Gebet“ aufgetreten. Der Friede möge im Land bleiben, heißt es darin, Bosheit, Neid, Hass, Furcht und Zank mögen vergehen. Das harmlose Lied wurde nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968 zum inoffiziellen Protestsong der Dissidenten. Bald danach durfte Marta Kubišová nicht mehr auftreten. Gefälschte Pornofotos sollten zeigen, dass ihr angeblicher moralischer Verfall mit der Rolle einer Künstlerin in der kommunistischen Tschechoslowakei nicht vereinbar war.
Das Aus für Kubišová bedeutete auch das Aus für das Trio Golden Kids. Gemeinsam mit Helena Vondráčková und Václav Neckář hatte Kubišová zuvor Erfolge gefeiert, in den siebziger Jahren starteten Vondráčková und Neckář dann erfolgreiche Solokarrieren. Kubišová klebte einstweilen Tüten. Erst 1989, während der Samtenen Revolution, sang sie von einem Balkon auf dem Prager Wenzelsplatz wieder ihr Gebet, das mittlerweile nur noch „Gebet für Marta“ genannt wird.
Irgendwann haben sich die drei dann wieder zusammengesetzt und darüber nachgedacht, die Golden Kids wieder auferstehen zu lassen. Wie konkret diese Überlegungen waren, darüber scheiden sich nun die Geister. Es gab einen verbindlichen mündlichen Vertrag über eine gemeinsame Tournee, sagt Vondráčková. Es handelte sich lediglich um ein allgemeines, unverbindliches Schmieden von Plänen, sagt Kubišová. Sicher ist nur, dass Vondráčková, die während der gesamten kommunistischen Zeit eine glänzende Karriere hingelegt hat, ihre ehemalige Kollegin Kubišová wegen der abgesagten Tournee auf 1,3 Millionen Kronen verklagt hat. In der ersten Instanz ist Vondráčková gescheitert, nächste Woche geht der Streit vor dem Oberen Gericht in Prag in die nächste Runde.
Die bemerkenswerte neue Wende kam vor wenigen Tagen: Eine Reihe namhafter Persönlichkeiten hat Vondráčková in einem offenen Brief aufgefordert, Kubišová in Ruhe zu lassen und von weiteren Klagen abzusehen. Vondráčková hätte die Werte des Geldes über die Werte von Freundschaft und Anstand gestellt, heißt es darin etwa. Unterzeichner sind unter anderem Expräsident Václav Havel, Expremier Jan Fischer und eine ganze Reihe von Künstlerinnen und Künstlern, vor allem aus der Musikbranche. Einer von ihnen ist übrigens Václav Neckář, das dritte Golden Kid.
Geld und Moral, Mitläufertum und Mut, beruflicher und persönlicher Erfolg – das sind die Hauptzutaten der leidenschaftlichen Diskussion über Helena und Marta, die nun in Tschechien entbrannt ist. Wie das Gericht entscheiden wird, das wird sich erst weisen. Getrost darf man aber davon ausgehen, dass die heute 63-jährige Vondráčková und die um fünf Jahre ältere Kubišová nie wieder gemeinsam als Golden Kids auftreten werden.