Brünn als „Mährisches Manchester“

Textilfabrik von Johann Heinrich Offermann (Foto: Archiv der Stadt Brünn)

In Brno / Brünn boomte im 19. Jahrhundert die Textilindustrie. Das brachte der Stadt die Bezeichnung „Mährisches Manchester“ ein. Und dieser Ruf reichte weit über die Grenzen der Habsburger Monarchie hinaus.

Ausstellung „Mährisches Manchester“ im Mährischen Kunstgewerbemuseum  (Foto: Archiv der Mährischen Galerie in Brünn)
Es war eine Ausstellung im Mährischen Kunstgewerbemuseum, die Brünn als „Mährisches Manchester“ vor einiger Zeit auch der breiteren Öffentlichkeit näherbrachte. Sie fand 2014 statt und blickte zurück auf ein ruhmreiches Kapitel der Brünner Geschichte. Während der Industrialisierung wuchsen damals in vielen Teilen der Stadt die Fabriken empor. Und neue Siedlungen entstanden besonders außerhalb der alten Stadtmauer. Diese Entwicklung, die bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einsetzte, war von einem starken gesellschaftlichen Wandel begleitet.

Die Schriftstellerin Kateřina Tučková stammt aus Brünn. Sie nahm die Ausstellung zum Anlass für ein Buch. Sein Titel lautet „Die Fabrik – Textilbarone aus dem mährischen Manchester“ (auf Tschechisch: „Fabrika – příběh textilních baronů z moravského Manchesteru“). Durch Tučkovás Initiative entstand in Brünn auch ein Themen-Spaziergang durch das „Mährische Manchester“ (Stezka moravským Manchesterem). Zugleich muss man sagen, dass sich der historische Stadtteil mit den Textilfabriken und den Villen der Unternehmer nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert hat.

Spaziergang auf historischen Spuren

Kateřina Tučková  (Foto: Pavel Hrdlička,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0)
Im Herbst vergangenen Jahres begleitete die bekannte Schriftstellerin persönlich eine Gruppe von Interessenten auf dem Spazierweg durch die Vergangenheit der Stadt. Radio Prag war dabei:

„An dieser Stelle befinden wir uns in der Tat an einer Grenze. Hier endet das gepflegte Stadtzentrum von heute und beginnt das Problemgebiet der sogenannten Brünner Bronx. In diesem Teil der Stadt lassen sich immer noch wichtige Spuren finden, die an die erfolgreiche Zeit des mährischen beziehungsweise österreichischen Manchester erinnern. Hier gleich in der Nähe steht das Gebäude des früheren ‚Deutschen Theaters‘. Nur einen Steinwurf davon entfernt befindet sich das frühere Künstlerhaus. Heute heißt es auf Tschechisch ‚Dům umění‘. Es ist das Kunsthaus, das 1910 ebenso für die deutschsprachige Bevölkerung von Brünn erbaut wurde.“

Künstlerhaus in Brünn  (Foto: Mercy,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0)
Auf dem Programm des „Deutschen Theaters“ habe bis zur Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 immer nur ein tschechisches Stück pro Woche gestanden, sagt Kateřina Tučková. Im Künstlerhaus befand sich bis 1945 der Sitz des „Vereins deutscher Künstler in Mähren“. Ursprünglich wurde das Gebäude vom österreichischen Architekten Heinrich Carl Ried im Jugendstil gebaut. 1946 und 1947 gestaltete es der tschechische Architekt Bohuslav Fuchs jedoch funktionalistisch um.

Tschechen und Deutsche lebten zuvor über Jahrhunderte hinweg gemeinsam in der südmährischen Stadt. Dies setzt Kateřina Tučková in einen historischen Kontext. So lud der böhmische König Přemysl Otakar II. bereits im 13. Jahrhundert deutsche Fachleute ins Land ein. Sie sollten sich nicht nur in den Grenzgebieten niederlassen, sondern auch in Städten im Landesinneren:

Poster 100 Jahre von Groß Brünn
„Zu den ersten Ankommenden gehörten deutsche Rechtsanwälte, mit denen das sogenannte Magdeburger Recht nicht nur in Brünn einzog. Sie halfen auch, dieses anderswo in Mähren einzuführen. Mit ihnen kamen zudem Handwerker aus unterschiedlichen Zünften. Der Fokus unserer Exkursion liegt zwar auf der Textilfertigung, doch diese siedelte sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hier an. Zu dem Zeitpunkt lag der Anteil der deutschsprachigen Einwohner an der gesamten Stadtbevölkerung bereits bei 20 bis 30 Prozent. Das änderte sich maßgeblich nach 1918. Bis dahin lebten hier im Stadtzentrum die Angehörigen deutschsprachiger Eliten. Historischen Quellen zufolge handelte es sich um rund 25 Prozent der Stadtbewohner“, so Tučková.

Nach der Gründung der Tschechoslowakei wollte der junge Staat die Zahl tschechischsprachiger Bewohner in Brünn erhöhen. Dazu entstand der Plan, angrenzende Ortschaften einzugemeinden. 1919 wurde also ein Gesetz verabschiedet, das das Stadtgebiet um das Siebenfache vergrößerte. Damit verdoppelte sich die Einwohnerzahl im Vergleich zum Jahr 1900 auf rund 220.000. Dadurch waren tschechischsprachige Bewohner in allen Teilen der Stadt in der absoluten Mehrheit.

Textilfachkräfte aus der Aachener Gegend

Ab 7. Juli 1839 war Brünn durch die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn mit Wien verbunden  (Foto: Archiv der Stadt Brünn)
Wie wurde aber Brünn mehr als einhundert Jahre zuvor zu einem international bekannten Standort der Textilindustrie? Auch dieser Frage ist Kateřina Tučková nachgegangen:

„Zum Ersten schuf Kaiser Josef II. dafür gute ökonomische Anreize, wie man heute sagen würde. Die ersten Gründer von Manufakturen waren für eine bestimmte Zeit zum Beispiel von Steuerabgaben befreit. Zudem war die Zunft der Tuchhandwerker nur schwach. Dabei lieferten zwei Flüsse in der Stadt ausreichend Wasser, das für die Textilherstellung wichtig war. Und nicht zuletzt lag Brünn strategisch günstig für den Handel. Denn Wien war nicht weit entfernt. Und ab 7. Juli 1839 war man durch die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn mit der Hauptstadt der Monarchie verbunden. Diese spielte eine wichtige Rolle für den Ausbau des Handels.“

An der Wiege der Tuchherstellung in Brünn stand unter anderem Johann Leopold Köffiller. Der erfolgreiche Kolonialwarenhändler und Unternehmer kam 1766 mit nur 23 Jahren an die Spitze des Kollegiums der Brünner Großhändler. Diese hatten die Aufsicht über die erste Tuchmanufaktur in der Stadt. 1781 übernahm er den kompletten Betrieb. Köffiller wollte die Produktion modernisieren und brauchte dafür Fachleute für Produktion und Verwaltung.

Textilfabrik von Johann Heinrich Offermann  (Foto: Archiv der Stadt Brünn)
„Er orientierte sich in die Gegend um die Städte Aachen, Monschau und Verviers an der heutigen deutsch-belgischen Grenze. Dort hatte die Wollverarbeitung eine lange Tradition, und es gab genügend qualifizierte Handwerker. Die Sache hatte aber einen Haken. Die dortige Bevölkerung war protestantisch, während hierzulande der katholische Glauben vorherrschte. Das sogenannte Toleranzpatent Kaiser Josefs II. sollte erst etwas später kommen. Um unter diesen Umständen hier herzukommen, musste man einen gewissen Mut aufbringen. Es waren oft zweit-, dritt oder viertgeborene Söhne von Besitzern der dortigen Tuchmanufakturen. In dieser Lage bestanden für sie wenige Chancen, einen Teil des Familienbesitzes zu erben. Dieser ging in der Regel an den ältesten männlichen Nachkommen über. Deswegen hatten sie in ihrer Heimat maximal die Aussicht auf eine Beschäftigung als leitender Facharbeiter“, so die Schriftstellerin bei dem Rundgang.

Tučkovás Buch „Fabrika“
In Brünn bestand für sie jedoch die Chance, in eine bessere Stellung als zu Hause aufzusteigen. Rund 30 junge Angehörige der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses kamen nach Mähren. Johann Leopold Köffiler erbat beim Kaiser eine Zustimmung zu ihrer Ansiedlung. Er stellte sie als Spinnereimeister ein und übertrug ihnen die Leitung und Verwaltung kleinerer Teilbereiche im Produktionsprozess. Die meisten von ihnen arbeiteten sich sehr gut ein. Als Köfiller zwölf Jahre später in finanzielle Probleme geriet, kauften sie ihm einzelne Vermögensteile der Manufaktur ab. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts bauten sie sogar neue Textilfabriken auf. Den Standort für ihr Gewerbe fanden sie außerhalb der Stadtmauern. Nach und nach stiegen immer mehr Textilhersteller zur Stadtelite auf. Zum Beispiel die Familien Mundy, Hopf, Bräunlich, Schoeller oder Offermann. Die Letztgenannten hat Kateřina Tučková in den Fokus ihres Buches „Fabrika“ gestellt. Die Suche nach den Wurzeln der Familie in Brünn habe viel Zeit in Anspruch genommen, sagt sie in der Vlhká-Straße, früher Offermanngasse:

„Johann Heinrich Offermann war nachweisbar der erste Angehörige der später berühmten Industriellen-Familie, der sich 1776 in Brünn niederließ. Er stammte aus der Gegend von Monschau am Niederrhein. Die Familie lebte über mehrere Generationen hinweg in unserer Stadt, bis in die Zeit der sogenannten wilden Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg. Johann Heinrich Offermann fand in einem kleinen Haus mit dem kuriosen Namen ‚Zum großen Schuh‘ eine bescheidene Unterkunft und zugleich seine erste selbständige Arbeitsstätte mit vier Webstühlen. 1892, ungefähr 100 Jahre und vier Generationen später, war es um den Lebensstandard der Familie Offermann vollkommen anders bestellt. Ihr gehört eine große Fabrik. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gelände aber bombardiert und zum Großteil zerstört. Was übrig blieb, wurde in den 1950er Jahren abgerissen. Leider geschah dies auch mit der architektonisch wertvollen Familienvilla, sie musste einem Kaufhaus und dem regen Stadtverkehr weichen. Es ist nicht viel übriggeblieben, was heute noch an die Familie Offermann in der Vlhká-Straße erinnert. Es sind kleine Häuser, die überwiegend Beamte der Fabrik bewohnt hatten. Und daneben stehen auch die Häuschen der Arbeiter.“

1891 waren in der Textilfabrik von Johann Heinrich Offermann etwa 16.000 Menschen beschäftigt. Zwei Jahre später starb der Unternehmer im Alter von 50 Jahren. Seine Witwe tat alles dafür, um die Textilfabrik am Laufen zu halten. Ihre Kinder waren damals noch klein. Ihnen und ihren Nachkommen ist es aber zu verdanken, dass die Marke „J. H. Offermann in Brünn“ im 19. Jahrhundert Weltruf erlangte. Sie wurden auch durch ihr Mäzenatentum in der Stadt und der Region bekannt.


Über das vielfältige gesellschaftliche Engagement erfahren Sie demnächst mehr – und zwar im zweiten Teil unseres historischen Spaziergangs durch Brünn als Mährisches Manchester.