Das andere Bild des Herrschers: Karl IV. und die Judenpogrome

Karl IV.

Tschechien feiert den 700. Geburtstag von Karl IV., der vor einigen Jahren zum „größten Tschechen“ gekürt wurde. Seit Jahrhunderten hat sich ein positives Bild des Monarchen überliefert – und es hat im Bewusstsein mehrerer Generationen feste Wurzeln geschlagen. Erst vor zwei oder drei Jahrzehnten haben Historiker hierzulande aber damit begonnen, den böhmischen König und römisch-deutschen Kaiser auch zu entmythologisieren. Eines der kontroversen Themen ist die Rolle Karls IV. bei den Judenpogromen seiner Zeit, vor allem jenem in Nürnberg.

Karl IV.
Im Lauf der Jahrhunderte haben es verschiedene gesellschaftliche Gruppen gut verstanden, die Persönlichkeit Karls IV. für eigene Anliegen zu instrumentalisieren und damit auch seinen guten Ruf aufzubauen. Darunter waren katholische Ideologen, sie stellten im 15. und 16. Jahrhundert der böhmischen Protestantenbewegung das Beispiel des frommen Katholiken Karl entgegen. Im 19. Jahrhundert betonten die sogenannten nationalen Erwecker, Karl sei ein „tschechischer“ Herrscher gewesen. Auch selbst hatte Karl IV. einen Beitrag zum eigenen positiven Bild geleistet: Er wies seine Chronisten an, was sie in seiner lateinisch verfassten Biographie mit dem Titel „Vita caroli“ hervorheben sollten.

Unumstritten ist: Karl übernahm 1346 den böhmischen Staat in desolatem Zustand von seinem Vater Johann von Luxemburg und brachte ihn zu wirtschaftlicher und kultureller Blüte.

Jan Jandourek  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Karl habe aber auch Eigenschaften besessen, die man heutzutage bei einem Herrscher nicht dulden würde, so der Theologe und Soziologe Jan Jandourek. In einer Betrachtung für den Tschechischen Rundfunk sagte er, Zitat:

„Abgesehen davon, dass Karl IV. zu drei Vierteln ein Ausländer war, verhielt er sich wie andere Feudale seiner Zeit. Er betrieb eine Machtpolitik vor allem im Interesse seiner Familie. Ihretwegen erweiterte er das Landesterritorium, um neue Lehen zu gewinnen. Das machte er aber klug. Wenn sich dies durch eine Heirat einfädeln ließ, nutzte er diese gewaltfreie Möglichkeit. Obendrein war er fromm und ein Reliquienliebhaber, also auf obskure Weise rückwärtsgewandt. Doch war er auch wieder nicht so fromm, da er seine Versprechen dem Papst gegenüber brach. In einer demokratischen Gesellschaft wäre es für ihn nicht leicht gewesen.“

Auf obskure Weise rückwärtsgewandt

Pogrom 1349
So lautet es also in einer lapidar formulierten Charakterstudie Karls IV. genau 700 Jahre nach seiner Geburt. Über die aktuell gefeierte Ikone der tschechischen Geschichte haben jüngst hierzulande auch Historiker diskutiert. Dabei kam die Sprache unter anderem auf eine Behauptung, die vor einigen Jahren in der Fernsehserie „Die Deutschen“ des deutschen ZDF geäußert wurde. Es ging um die Frage, welche Schuld Karl hatte an den Pogromen gegen Juden in Nürnberg und in weiteren deutschen Städten. Die Aussage lautete, dass diese Pogrome „bis zum Holocaust des 20 Jahrhunderts durch nichts übertroffen wurden.“

Martin Nodl  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Karl sei bestimmt nicht derjenige gewesen, der die Pogrome initiiert habe. Das sagt Martin Nodl vom Institut für mittelalterliche Studien an der Prager Karlsuniversität. Das erste Pogrom in Nürnberg von 1349 bezeichnet er allerdings als einen Fall, der ins Auge sticht. Der erste Anstoß sei zwar von den Nürnberger Bürgern gekommen:

„Karl aber billigte praktisch das Pogrom, weil er vom Raubgut einen Teil für sich verlangte. Anhand von Dokumenten aus der Zeit um die Mitte des 14. Jahrhunderts lassen sich ähnliche Pogrome auch in weiteren deutschen Städten belegen. In Böhmen wie im gesamten römisch-deutschen Reich waren Juden direkte Untertanen des Herrschers und damit auch der Reichsgerichtskammer unterworfen. Die Beteiligten an den Pogromen wurden allerdings nicht bestraft. Karl hatte ihnen im Voraus Straffreiheit zugesichert und profitierte davon. Doch sein Handeln mit dem Holocaust zu vergleichen, wie es in der ZDF-Serie zu hören war, ist ziemlich abwegig. Damals ging es dem Kaiser keineswegs um eine Liquidierung der jüdischen Bevölkerung, sondern um den Profit. Ökonomisch war die Lage im Reich nach mehreren Pestepidemien äußerst angespannt. Und die damalige Gesellschaft schrieb die Schuld für die verheerenden Folgen der Pestepidemien teils den Juden zu.“

Marienkirche  (Frauenkirche) in Nürnberg  (Foto: Kolossos,  CC BY-SA 3.0)
Zu Karls Lebzeiten gab es in Deutschland schätzungsweise über 1000 jüdische Gemeinden. Am 16. November 1349 erlaubte der Herrscher den Bürgern von Nürnberg aufgrund ihres Gesuchs, das Judenviertel abzureißen. Stattdessen sollten sie eines der heutigen Wahrzeichen der Stadt bauen: die Marienkirche mit dem neuen Hauptmarkt. Am 5. Dezember kam es dann zu dem Pogrom, bei dem zwischen 500 und 600 Juden ermordet wurden. Weitere mussten die Stadt verlassen.

Inszeniertes Pogrom in Nürnberg?

Den Vorfall von Nürnberg sieht der katholische Historiker Radomír Malý anders. Er glaubt nicht, dass sich der fromme Kaiser vor allem vom eigenen Profit treiben ließ:

„Karl IV. versuchte, treu an der katholischen Glaubenslehre festzuhalten, auch in der Einstellung zu den Juden. Die Päpste haben ab dem 11. Jahrhundert rund 300 Bullen herausgegeben, in denen sie die Ermordung der Juden untersagten. Am schärfsten formulierte dies Papst Innozenz III. im Jahr 1198. Laut seiner Bulle musste ein Christ, der einem Juden etwas Böses angetan hatte, exkommuniziert werden.“

Radomír Malý  (Foto: YouTube)
Auch Martin Nodl ist der Meinung, dass sich die Päpste eindeutig gegen Juden-Pogrome gestellt haben. Doch seien sie nicht in der Lage gewesen, konkrete Täter aufzudecken und zu bestrafen, so der Historiker.

Nodls Branchenkollege Malý lehnt aber die Behauptung strikt ab, Karl IV. hätte das Pogrom initiiert, indem er der Stadt Nürnberg allen jüdischen Besitz und auch die verzinsbaren Pfandbriefe der Juden in Aussicht stellte. Es sei eine Hypothese des tschechischen Historikers Zdeněk Fiala, die wahrscheinlich deutsche Historiker übernommen hätten:

„In den Pfandbriefen steht, dass jüdisches Eigentum erst in dem Fall jemandem anderen übereignet werden durfte, wenn der ursprüngliche Besitzer ums Leben gekommen war oder aber das Reich verlassen hatte. Die Formulierung ‚ums Leben gekommen‘ bedeutete aber bei Weitem keine Aufforderung zum Pogrom. Man muss sich bewusst machen, dass zwischen 1347 und 1353 über 20 Millionen Menschen der Pest-Pandemie zum Opfer gefallen sind. Manche Regionen waren danach praktisch menschenleer. Karl IV. könnte sich darauf bezogen haben, dass vielleicht auch viele Juden während der Pandemie gestorben waren.“

In diesem Punkt stimmt Nodl seinem Kollegen zu:

Judenverbrennung
„Meiner Ansicht nach hat Karl bestimmt keine Aufforderung zum Pogrom gegeben. Es entsprach nicht seiner Denkweise. Als es aber dann zum Pogrom kam, wollte er daraus sozusagen Kapital schlagen. Was konkret in Nürnberg geschehen ist, liegt zum Teil bis heute im Dunkeln, auch wenn zu diesem Thema bereits viel Fachliteratur geschrieben wurde. Bekannt sind mehrere Urkunden, in denen Karl Sanktionen im Fall von Pogromen verankert hat. Nürnberg ist der einzige Ort, an dem er schon vor dem Pogrom eine Amnestie ausgestellt hatte. In anderen Städten sollte die Situation erst im Nachhinein irgendwie geregelt werden. Karl ging es selbstverständlich nie um eine Vertreibung der Juden aus Böhmen oder allgemein aus dem römisch-deutschen Reich. Für ihn waren sie eine willkommene Einnahmequelle. Karl litt, wie allgemein bekannt, zeitlebens unter Finanznot.“

Ständige Finanznot als Motiv

Johann von Luxemburg
Beide Historiker stehen für die beiden Gegenpole in der tschechischen Sicht auf Karl IV. Radomír Malý stellt den „größten Tschechen“ konsequent in ein positives Licht:

„Karl IV. hat Böhmen vor allem zivilisiert. Er hat eine feste Ordnung im Land eingeführt, das infolge der schwachen Regierung seines Vaters Johann von Luxemburg in Trümmern lag. Meiner Ansicht nach hat er Böhmen auch humanisiert. Zum Beispiel durch die Aufhebung der Ordinalien, der sogenannten Gottesurteile. Diese hatten grausame Strafen zur Wahrheitsfindung zugelassen, wie das Abhacken von Beinen, von Nasen, das Ausstechen der Augen und Ähnliches mehr. Hinzu kommt auch sein Verbot, den Untertanen zu viel Last abzuverlangen.“

Martin Nodl spricht hingegen auch über die Schattenseiten des römisch-deutschen Imperators:

Als sich 1978 Todestag Karls IV. zum 600. Mal jährte,  wurde ihm eine Ausstellung auf der Prager Burg gewidmet  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Es geht um sein systematisches Bemühen, jegliche Häresie hierzulande auszurotten. Hinzu kommt selbstverständlich auch sein höchst pragmatisches Vorgehen gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Dies geschah in deutschen Städten allerdings deutlich stärker als in Böhmen. Und nicht zuletzt meine ich die tiefverwurzelte Abneigung gegen jedes Anderssein im sexuellen Bereich, die durch Gerichtsprozesse gegen Homosexuelle in Norditalien belegt sind.“

Für tschechische Historiker war es vor 1989 keine Selbstverständlichkeit, eigene, freie Meinungen zu äußern. Auch ein mittelalterlicher Monarch wie Karl IV. war da keine Ausnahme. Als sich 1978 sein Todestag zum 600. Mal jährte, wurde ihm mit Billigung der kommunistischen Parteiführung zum ersten Mal eine großzügig konzipierte Ausstellung auf der Prager Burg gewidmet. Sie sollte eine Antwort sein „auf die revanchistisch geprägten Aktionen in der BRD, wo in Nürnberg und Köln große Ausstellungen mit Unterstützung offizieller Stellen veranstaltet werden mit dem Ziel, unsere Bevölkerung durch ideologische Diversion zu beeinflussen“.