Das Schicksal der russischen Emigranten in der Tschechoslowakei nach 1945

Rote Armee in Prag

Als im Frühjahr 1945 die Rote Armee die Böhmischen Länder von den deutschen Besatzern befreite, wurde sie von den meisten mit Freude begrüsst. Nach sechs Jahren Krieg war der Friede in greifbarer Nähe. Doch einige Bewohner des damaligen Protektorats Böhmen und Mähren sahen ihrer Befreiung durch die Rote Armee mit gemischten Gefühlen entgegen: sie waren russische Emigranten, die nach dem russischen Bürgerkrieg aus der Sowjetunion geflohen waren und in den 1920er Jahren in der Tschechoslowakei ein neues Zuhause gefunden hatten.

Rote Armee in Prag
"Die meisten Emigranten, die hier in der Zwischenkriegszeit lebten, verliessen Russland nach dem Bürgerkrieg und dem Sieg der Bolschewisten. Fast alle hatten in der sog. Weissen Garde, der russischen Freiwilligen Armee, gegen die Rote Armee gekämpft. Fast die gesamte Armee ging nach ihrer Niederlage in die Türkei. Ihre Führer baten die europäischen Staaten, Angehörige der Armee aufzunehmen. Die tschechoslowakische Regierung hat damals den jungen Männern angeboten, hier ihr Studium abzuschliessen. Und so kamen tausende junge Männer in die Tschechoslowakei, die zumeist aus städtischen, liberalen, intellektuellen Kreisen stammten."

Vladimir Bystrovs Vater war einer dieser jungen Männer, die 1921 aus Russland in die Tschechoslowakei kamen. Er stammte aus einer grossbürgerlichen, intellektuellen Familie in Petersburg und hatte nach Ausbruch des russischen Bürgerkriegs gegen die Bolschewiken gekämpft. Heute ist Vladimir Bystrov Vorsitzender eines Ausschusses, der die Interessen der Nachkommen dieser russischen Emigranten in der Tschechoslowakei vertritt. Denn deren Schicksal war nach der Befreiung der Tschechoslowakei durch die Rote Armee vor 58 Jahren alles andere als rosig.

Schätzungsweise bis zu 40.000 russische Emigranten lebten in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Die tschechoslowakische Regierung unterstützte diese finanziell, ermöglichte das Studium in Russisch, es existierten russische Schulen, Zeitungen und Verlage. Zu Beginn hofften die Russen auf eine baldige Rückkehr, doch mit der Zeit integrierten sich die meisten in ihrer neuen Heimat:

"Sie studierten hier, beendeten ihr Studium, wurden Ingenieure, Professoren, Ärzte und identifizierten sich immer mehr mit der demokratischen tschechoslowakischen Republik. Viele heirateten Tschechinnen oder Slowakinnen, gründeten hier Familien und erhielten die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. Wir schätzen, dass 1938 ca. 13.000 russische Emigranten die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft hatten."

Der Vater von Vladimir Bystrov gehörte zu jenen Russen, die in Prag eine neue Heimat fanden:

"1921 kam mein Vater hierher und begann an der russischen Jurafakultät der Karlsuniversität zu studieren, 1929 begann er als Beamter im Aussenministerium zu arbeiten, dann heiratete er eine Tschechin, erhielt die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und ich wurde geboren und dann begann die deutsche Okkupation."

Viele ehemalige russische Emigranten waren während der deutschen Okkupation im tschechischen Widerstand tätig - sie identifizierten sie sich mit ihrer neuen Heimat und sahen es als Selbstverständlichkeit, für diese zu kämpfen. Viele endeten in Konzentrationslager, insbesondere diejenigen, die jüdischen Ursprung waren. Mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion änderte sich die Lage der Russen im Protektorat:

"Als Deutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, wurde gleich in dieser Nacht die erste Aktion gegen die russischen Emigranten durchgeführt. Ca 400 wurden verhaftet und für einige Monate eingesperrt, danach standen sie alle unter Hausarrest. Mein Vater wurde damals ebenfalls verhaftet und verbrachte drei Monate im Gefängnis in Pankrac."

Mit der heranrückenden Roten Armee wuchs die Angst vieler dieser Emigranten. Während des russischen Bürgerkriegs hatten sie gegen die Bolschewiken gekämpft, sie waren aus der Sowjetunion geflohen, da ihnen dort Verfolgung gedroht hatte und nun kam die Sowjetunion quasi zu ihnen.

"Mit der Roten Armee kamen damals auch spezielle Einheiten des KGB, deren Aufgabe es war, das Hinterland zu säubern. Gegen die ehemaligen Emigranten gingen sie äusserst systematisch vor, erst in Mähren und Brünn. Nach Prag kam die Rote Armee am 9. Mai 1945 - die ersten Informationen über das Verschwinden von Angehörigen der russischen Emigration stammen vom 11. Mai. In jenen ersten Nachkriegstagen verschwanden täglich 20-30 von ihnen."

Der Vater von Vladimir Bystrov verschwand am 20. Mai 1945. Wie schätzungweise weitere rund 700-800 in der Tschechoslowakei lebende Russen wurde er in die Sowjetunion verschleppt. Hier verlieren sich die Spuren der meisten. Es existieren keinerlei Papiere, Verzeichnisse ihrer Namen oder Gerichtsprotokolle. Die meisten wurden wegen ihrer Mitgliedschaft in der Weissen Garde während des russischen Bürgerkriegs zu Zwangsarbeit oder Todesstrafen verurteilt. 70 von ihnen kehrten in den 50er Jahren in die Tschechoslowakei zurück. Vladimir Bystrovs Vater gehörte zu jenen glücklichen - nach zehn Jahren Gulag kehrte er 1955 nach Prag zurück. Wie er hatten viele jener russischen Emigranten im Mai 1945 vor einem grossen Dilemma gestanden:

"Alle wussten eigentlich, was sie erwartete. Einige flohen noch während der letzten Kriegstage in den Westen, andere wollten gleich nach Kriegsende fliehen aber viele waren wie mein Vater in einer schwierigen Situation: wie konnten sie ihren tschechischen Frauen erklären, warum sie fliehen sollten. Es war Frieden, sie waren Bürger der Tschechoslowakei, Edvard Benes war Präsident - was sollte schon passieren."

Die Rote Armee war in jenen ersten Friedenswochen des Frühjahrs und Sommers 1945 gezielt gegen sog. Feinde der Sowjetunion vorgegangen. Verschleppt wurden vor allem diejenigen, die sich öffentlich engagiert hatten, für russische Exilzeitungen geschrieben, in Exilparteien tätig gewesen waren - tschechoslowakische Bürger russischer Nationalität verschwanden plötzlich, es gab keine Haftbefehle oder andere offizielle Papiere. Nur einige Familien hatten den Mut, nach ihren Angehörigen zu fragen. Die tschechoslowakische Regierung wusste nicht, wie sie auf dieses eindeutige Brechen internationaler Abkommen reagieren sollte.

"Die tschechoslowakische Regierung war überrascht. Sie war überrascht von der Willkür dieser KGB-Einheiten, die einfach internationale Verträge ignorierten. In den tschechoslowakischen Ministerien war man sich nicht einig, wie man reagieren sollte - der Vormarsch der Kommunisten war bereits damals bemerkbar. Im Innenministerium, dem ein kommunistischer Minister vorstand, wollte man wegen dieser Angelegenheiten nichts weiter unternehmen. Im Aussenministerium unter Jan Masaryk dagegen bestand man darauf, dass internationale Verträge auch von der Sowjetunion eingehalten werden müssen - so wurde schon in dieser Angelegenheit eine Art Machtkampf zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten durchgeführt."

Bis heute ist eigentlich nicht bekannt, wie viele ehemalige russischen Emigranten nach Kriegsende in die Sowjetunion verschleppt und ohne Prozess nach Sibirien oder in den Tod geschickt wurden. Der Ausschuss "Oni byli první - Sie waren die ersten", dessen Vorsitzender Vladimir Bystrov ist, versucht, die Schicksale aller Verschleppten zu dokumentieren. Der Aussschuss wurde 1994 gegründet. Vor der Samtenen Revolution von 1989 war dieses Thema Tabu. Viele Familien erfuhren erst in den 90er Jahren vom Schicksal ihrer in die Sowjetunion verschleppten Angehörigen, viele leben bis heute in Ungewissheit. Während des Sozialismus war es nicht gerade von Vorteil, Nachkomme russischer Emigranten zu sein. Eine offizielle Verfolgung existierte zwar nicht, aber immer wieder bekam auch Vladimir Bystrov zu spüren, dass er der Sohn eines Feindes der Sowjetunion ist. Die meisten Familienangehörigen passten sich in der Tschechoslowakei an. Noch heute leben tausende Nachfahren jener russischen Emigranten in Tschechien, zu erkennen sind sie an ihren russisch klingenden Namen.