„Das Wichtige ist nicht die Strafmündigkeit“ - Kinder- und Jugendkriminalität in Tschechien sinkt
Vor allem seit im vergangenen Dezember in Deutschland ein 20-jähriger Türke und ein 17 Jahre alter Grieche einen Rentner halb totgeschlagen haben, ist die Diskussion um die Kinder- und Jugendkriminalität wieder entbrannt. Am lautesten rief Hessens Ministerpräsident Roland Koch nach einer Verschärfung der Gesetze. Auch im tschechischen Karlsbad rief eine Schulleiterin jetzt nach einer Herabsetzung der Strafmündigkeit. Kinder und Jugendliche der Roma-Minderheit hatten in den letzten Monaten immer wieder Kinder einer Grundschule überfallen und ausgeraubt. Hilft eine Senkung der Strafmündigkeit? Und wie ist es seit der Wende überhaupt um die Kinder- und Jugendkriminalität in Tschechien bestellt?
Und zumindest der gefühlte Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität hält bis heute an, wie das Beispiel Karlsbad zeigt. In den vergangenen Monaten haben vor einer Grundschule Romakinder und –Jugendliche immer häufiger Straftaten an Gleichaltrigen begangen. Die rechtsextreme Nationale Garde hat die Gelegenheit öffentlichkeitswirksam genutzt und Wachen aufgestellt. Die Schulleiterin rief sofort nach einer Senkung der Strafmündigkeit. Die liegt derzeit in Tschechien bei 15 Jahren. Das Gefühl des Kirminalitätsanstiegs bei Kindern und Jugendlichen widerspricht allerdings den neusten Statistiken. Am Dienstag brachte die Rechtsprofessorin Helena Válková auf der Pressekonferenz der Richter-Union etwas Ordnung in das Gefühl und zwar mit Zahlen. Nach einem anhaltend starken Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität bis Ende der 90er Jahre, konnte in den letzten Jahren ein wesentlicher Rückgang festgestellt werden. 7700 Eigentumsdelikte, wie zum Beispiel Diebstahl, verübten Kinder unter 15 noch im Jahr 2000. Jugendliche – über 15 Jahre alt – brachten es auf ganze 10.000 Eigentumsdelikte. Im vergangenen Jahr, also sieben Jahre später, sah das statistisch wesentlich besser aus: 1500 Eigentumsdelikte verübt von Kindern und 4000 von jugendlichen Straftätern. Aber auch die Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen sind eindeutig zurückgegangen.
„Und das ist sehr erfreulich, dass erstens die registrierte Kriminalität seit 2000 eindeutig sinkt. Und zweitens ist die Kriminalpolitik – das heißt, wie man auf die Kriminalität reagiert – liberaler geworden. Denn von den Strafverfolgten endet nur weniger als die Hälfte wirklich mit einer Strafverurteilung. Dazu kommt dass der Jugendrichter eine unvergleichbar reichere Skala von Maßnahmen hat, die er anwenden kann.“
Wenn Helena Válková von einer liberaleren Rechtspraxis spricht, dann meint sie damit aber nicht, dass die Richter einfach mehr durchgehen lassen.
„Ich meine damit, dass man differenzierter vorgeht. Man nutzt nicht nur die bedingungslose Freiheitsstrafe, sondern auch die so genannten ambulanten Maßnahmen, wie zum Beispiel Verurteilung auf Bewährung, Aufsicht des Bewährungshelfers, Mediation, Täter-Opfer-Ausgleich, bedingte Einstellung des Strafverfahrens – so genannte diversions -, also alle diese Maßnahmen, die einen Beitrag dazu leisten, dass weniger Jugendliche dann wirklich in Haft landen.“
Diesen veränderten Umgang mit den jungen Straftätern in der Rechtspraxis bestätigt auch der Richter Libor Vávra:
„Die Veränderungen seit 1990 sind sehr groß. Bis zum Jahr 1989 stand auch für das Jugendstrafrecht die Strafe im Vordergrund. Man schaute nicht darauf, wie die Zukunft dieses Menschen aussehen würde. Das Rechtssystem produzierte ganz klar Rückfälle und Gewohnheitsverbrecher. Ich sage nicht, dass man nicht bestrafen sollte. Es sollten aber keine Gewohnheitstäter daraus hervorgehen. Gerade auch an Fällen aus Deutschland, den Niederlanden und Österreich ist zu lernen, dass Legislative und Rechtssprechung sich in eine andere Richtung entwickelt haben und neben der Bestrafung auch nach Programmen suchen, um Wiederholungstaten zu verhindern. Und das ist eine große Veränderung. Das zeigt sich ja auch an den Statistiken, deren Ergebnisse besser werden.“
Die Gründe für den Rückgang der Kinder- und Jugendkriminalität sind vielfältig. Und manche könnte man auch als Zahlenjonglage bezeichnen. So ist zum Beispiel seit 2002 ein Diebstahl nur dann als Straftat zu werten, wenn der Schaden mindestens 5000 Kronen, also rund 200 Euro beträgt. Zuvor lag die Grenze wesentlich niedriger, nämlich bei 2000 Kronen. Auch so lassen sich Statistiken verbessern. Rechtsprofessorin Válková nimmt auch an, dass die Polizei geringfügigere Delikte nicht mehr in dem Maße registriert, wie früher und sich statt dessen schwerwiegenderen Fällen widmet. Entscheidend dürfte jedoch auch ein neues Gesetze sein, dass seit 2004 in Kraft ist, wie Richter Libor Vávra erklärt:
„Dieses Gesetz verpflichtet, auch Straftaten zu verfolgen, die von Kindern verübt werden, also denjenigen, die noch nicht strafmündig sind. Auch wenn das natürlich nicht mit einer klassischen Verurteilung endet, so gelingt es trotzdem, Kinder abzufangen, bevor sie auch nach dem Gesetz zu Straftätern werden. Sie werden dann mit Einschränkungen belegt, müssen erzieherische Programme durchlaufen und in Extremfällen werden sie in Erziehungsheime eingewiesen. Das neue Gesetz ist also bis zu einem gewissen Grad repressiv, aber es ermöglicht den Strafverfolgungsorganen wesentlich früher mit solch jungen Tätern zu arbeiten, als erst dann, wenn sie 15 Jahre alt werden.“
Eine weitgehend offene Frage ist allerdings noch, wie viel latente Kriminalität es gibt, also Straftaten, die unentdeckt bleiben, sagt Helena Válková. Da gebe es noch eindeutig zu wenig Untersuchungen. Sie befüchtet vor allem eine rasante Zunahme der Schikane in der Schule:
„Ich fürchte, wir haben eine latente Schikane, die wahrscheinlich auch nicht nur in Ausnahmen schon die Qualität einer Straftat erreicht. Hier brauchen wir unbedingt noch mehr Forschung. Für unsere Schulen kann das schon ein typisches Merkmal sein, aber ich weiß nicht, inwieweit das als Straftat zu qualifizieren ist. Aber wir wissen, dass es so etwas sehr oft gibt an den Schulen.“
Im Falle von Karlsbad rief die Schulleiterin nach einer Senkung der Strafmündigkeit. Für die Juristin Válková ist das keine Lösung:
„Das ist selbstverständlich überhaupt keine Antwort, weil wir schon jetzt genügend Möglichkeiten haben hier einzugreifen. Wir haben die Instrumente, nur brauchen wir die Leute, die das können. Wir brauchen mehr Leute, die gut geschult sind und die können dann eingreifen mit den Instrumenten, die sie schon jetzt zur Verfügung haben.“
Auch ein Vergleich mit der Schweiz zeige, dass man nicht einfach Kinder wie normale Straftäter verurteilen könne.
„Dort haben sie seit 2007 eine Altersgrenze von zehn Jahren eingeführt. Aber dennoch dürfen sie erst drastisch eingreifen, wie zum Beispiel einen Jugendlichen ins Gefängnis zu stecken, wenn er 16 Jahre alt ist. Ansonsten dürfen sie nur erzieherisch mit ihm arbeiten. Also: Das Wichtige ist nicht die Grenze. Das Wichtige ist, was man mit dem Kind machen kann, soll und was die geltende Regelung erlaubt. Und die, meiner Überzeugung nach, erlaubt schon jetzt viel.“