Den Osten begreifen und Europa stärken
Altbundespräsident Joachim Gauck wurde von der Prager Karlsuniversität ausgezeichnet. Er warb dabei für mehr Verständnis für den Osten und ein gemeinsames Europa.
„Uns geht es gar nicht so schlecht, aber wir fühlen uns halt schlecht. Das kennen wir in Deutschland ja auch. Die Situation ist so gut, wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Das Gefühl der Menschen ist aber ein anderes. Ein merkwürdiges Missverhältnis ist das. Wenn gerade Sie als junge Leute sich die Situation Ihres Landes anschauen mit der Vollbeschäftigung und der europäischen Vernetzung, dann ist klar, dass Tschechien enorm von der EU profitiert hat. Und dass auch die Nachbarschaft zu Deutschland nicht gefährlich, sondern wirtschaftlich außerordentlich günstig ist. Der Zustand Ihres Landes ist ohne die Mitgliedschaft und Freundschaft in der Europäischen Union so nicht vorstellbar.“
Dennoch konstatierte Gauck, dass gerade in Tschechien die Zustimmung zur EU weiterhin sehr gering sei. Das ehemalige deutsche Staatsoberhaupt formulierte deshalb einen Appell an die versammelten Studenten:„Während 85 Prozent der Luxemburger die EU für eine gute Sache halten und es in der Union im Schnitt über 60 Prozent sind, messen wir in Tschechien einen Wert von 34 Prozent. Das ist die niedrigste Zustimmung in ganz Europa. Ich wünsche Ihnen, die sie alle im Alter meiner Enkel sind, dass sich diese Zahl durch ihre Mitwirkung irgendwann einmal ändert.“
Nichtsdestotrotz sieht Joachim Gauck viel Nachholbedarf auf beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Man müsse im Westen mehr Verständnis zeigen für die Haltung des Ostens in vielen gemeinsamen Fragen:
„Ende der 1970er Jahre kam ich nach ‚drüben’ in den Westen, ich komme ja aus Rostock. Für mich war ganz erstaunlich, dass die alle keine Deutschen sein wollten. Sie fühlten sich als Hamburger oder Hessen und gleichzeitig als Europäer. Der Begriff der Nation war vergiftet. Wir haben in Deutschland dabei aber oft übersehen, dass die Nation der Raum war, in dem rechtlicher und sozialer Schutz gewährt ist. Dass es ein natürliches Gefühl ist, bei sich selbst zuhause sein zu wollen. Das war in dem postnationalen Denken nicht beheimatet. Dass Menschen, die ein halbes Jahrhundert hinter dem Eisernen Vorhang gelebt haben, eine ganz andere Prägung erfahren haben, dass findet heute im Westen nicht ausreichend Berücksichtigung. Der Westen hat kein Gefühl dafür, dass der Begriff der Nation für die postkommunistischen Länder eine Verheißung war. Endlich frei, endlich wir und nicht mehr unter dem Diktat von Moskau.“ Ein Punkt ist laut Gauck auch die Migration. In den ehemaligen kommunistischen Ländern habe man mit Fremden nun mal weniger Erfahrungen als im Westen. Da seien Migranten schon lange Teil einer gemeinsamen Identität.Der Preis Karls IV. ehrt seit 1993 jene Personen, die sich besonders um gesellschaftlichen Fortschritt in einem europäischen Kontext verdient gemacht haben. Übergeben wird er vom Prager Oberbürgermeister. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. Gauck teilte mit, er werde mit den finanziellen Mitteln die Entwicklung gemeinsamer tschechisch-deutscher Projekte unterstützen.