Der Genozid an den Roma aus europäischer Perspektive
Ende Mai hat die Europäische Union ein Resolution verabschiedet, in der sie die tschechische Regierung zur Beseitigung einer Schweinefarm im südböhmischen Lety auffordert. Denn diese Schweinefarm befindet sich auf dem Gelände des früheren Roma-Konzentrationslagers. Heute, ein halbes Jahr später, steht die Schweinefarm nach wie vor, von außen betrachtet hat sich an der Situation seitdem also nichts geändert. Nicht auf der Stelle getreten ist jedoch die Diskussion über die Auseinandersetzung mit dem Roma-Holocaust. Dass diese Auseinandersetzung eine zunehmend europäische Dimension besitzt, daran erinnerte vergangene Woche eine Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung in Prag.
"Ich glaube, die tschechische Gesellschaft sieht sich einerseits als Opfer des Nationalsozialismus und ignoriert gleichzeitige Lager wie Lety und andere, die unter tschechischer Verwaltung standen und wo Tschechen sich im Auftrag der Nazis an den Verbrechen beteiligt haben. Tschechien trägt für die Gedenkstätten, die in seinem Land sind, eine moralische Verpflichtung, diese Orte in würdiger Form zu schützen. Das tut die tschechische Gesellschaft bis heute nicht, verantwortlich ist dafür natürlich in erster Linie die Politik."
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats deutscher Sinti und Roma, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Sinti und Roma in Deutschland heute als nationale Minderheit anerkannt werden. Dass sie in Tschechien noch nicht einmal eine würdige Gedenkstätte für die Opfer des Holocausts haben, sondern sich an den Orten der beiden früheren Roma-Konzentrationslager ein Erholungszentrum bzw. eine Schweinefarm befinden, empört Rose maßlos:
"Diese Erniedrigung und Demütigung und diese Ignoranz gegenüber einem Verbrechen, das in der Geschichte einmalig war und das von der tschechischen Politik von der tschechischen Politik durch diesen Zustand weiter verharmlost wird, ist für mich nicht akzeptabel und deshalb werde ich diesen Ort auch nicht besuchen."
Das provisorische Mahnmal, das der damalige tschechische Präsident Vaclav Havel vor zehn Jahren nahe der Schweinefarm in Lety errichten ließ, ist auch für Roman Kwiatkowski ein inakzeptabler Ort für ein würdiges Gedenken der Holocaust-Opfer. Kwiatkowski ist u.a. Mitgründer der Roma-Vereinigung in Polen und Mitglied des Internationalen Auschwitz-Komitees:
"In Polen ist so etwas unzulässig. So etwas hat es nicht gegeben und wird es nicht geben. Die polnische Gesellschaft, die stark durch den Holocaust gezeichnet ist, nimmt die Belange von Minderheiten sehr ernst. Jedes Volk hat das Recht auf eine würdige letzte Ruhestätte. Stellen Sie sich doch einmal vor, dass in Lety Juden umgekommen wären. Dann wäre es absolut unvorstellbar, dass sich heute in der Nähe eines ehemaligen KZ eine Schweinefarm befände. Stellen Sie sich das doch einmal vor."
Dass die tschechische Regierung in der Frage der Schweinefarm nicht längst viel entschiedener vorgegangen ist- u.a. deshalb, weil deren Beseitigung mit dem Verlust von Arbeitsplätzen verbunden wäre, kann Kwiatkowski absolut nicht nachvollziehen:
"Das ist ein ganz anderes Problem. In Polen und anderen Ländern werden auch Fabriken geschlossen und verlieren Tausende Menschen ihre Arbeit. Das ist nun einmal die Situation in einer Zeit demokratischer Veränderungen. Und das Argument, dass bei einer Beseitigung der Schweinefarm tausende Menschen protestieren würden - ich bitte Sie! Tschechien ist ein Rechtsstaat und jeder hat das Recht zu demonstrieren."
"Wir werden sich nach einer gewissen Zeit von der Europäischen Kommission verlangen, dass sie uns Bericht erstatten, weil diese Resolution war auch an die Kommission gerichtet, damit sie mit der Problematik Lety etwas macht."
Milan Horacek, der nach 1968 nach Deutschland emigrierte und heute die deutschen Grünen im Europaparlament vertritt, begreift die Diskussion um die Roma-Gedenkstätte in Lety als europäisches Problem. Er hat in diesem Jahr sowohl im Europäischen als auch im tschechischen Parlament in einer Ausstellung auf das Thema aufmerksam gemacht und hält die Einmischung der EU für dringend geboten. Vor allem sollte die EU die Romafrage nicht als Problem einzelner Staaten begreife, sondern sich ihre europäische Dimension bewusst machen, die heute aktueller ist als je:
"Ich war jetzt mit dem Menschenrechtsausschuss (des Europäischen Parlamentes, Anm. Verf.) in Rumänien, dort gibt es eine sehr bedeutende Roma-Minderheit. Wenn man weiß, dass Rumänien jetzt demnächst in die EU kommt, dann wird diese Minderheit aufgrund ihrer Zahl, aber auch ihrer Kultur und Tradition, mit den Roma-Minderheiten in anderen Staaten zu einem eigenen Volk zusammenwachsen. Man weiß, dass dieses Thema auf uns verstärkt zukommt, auf die EU als solche."
Auch Romani Rose misst der Europäischen Union in puncto Erinnerungspolitik eine herausragende Bedeutung bei:"Die Europäische Union hat die wichtigste Rolle, weil sie Maßstäbe gesetzt hat, die ausdrücken, dass wir eine europäische Verantwortung aus der europäischen Geschichte haben. Der Holocaust an den Sinti und Roma ist Bestandteil europäischer Geschichte. Wer im Falle unserer Minderheit Demütigungen und Erniedrigungen zulässt, der öffnet für Neonazis und deren Ideologien heute schon wieder die Türen."
Und letztendlich, so meint der grüne Europa-Abgeordnete Milan Horacek, seien durchaus nicht nur die Roma heute von Diskriminierung bedroht:
"Das ist das Interessante, dass man nicht immer Roma sein muss, um sehr tief zu verstehen, was für spezielle Probleme einfach Minderheiten in den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften haben."