Im Lager geboren, im KZ ermordet – Die Roma-Kinder aus dem früheren Reichenberg

Vor kurzem wurde in Liberec / Reichenberg ein Denkmal aufgestellt mit der Widmung: „Für jene Kinder, die die Welt nicht kennengelernt haben“. Gemeint sind Kinder der Roma-Minderheit aus den Sudetengebieten, die ab Oktober 1938 in nationalsozialistischen Lagern geboren und später vor allem in Auschwitz ermordet wurden. Grundlage für den Entwurf des Mahnmals sind Forschungen des Historikers Ivan Rous und seiner Kollegen.

Ivan Rous | Foto: Jana Švecová,  Tschechischer Rundfunk

Es ist ein bedrückendes Kapitel der Geschichte: die unterschiedlichen Arten von Lagern, die die Nationalsozialisten nach dem Anschluss der sogenannten Sudetengebiete im Oktober 1938 dort aufgebaut haben. Bisher sind sie noch nicht sonderlich erforscht. Einer der wenigen Historiker, die sich mit dem Thema beschäftigen, ist Ivan Rous. Vergangenes Jahr hat der Geschichtswissenschaftler vom Nordböhmischen Museum in Liberec seine erste Studie zum Thema „Rüstungsindustrie und Lager“ veröffentlicht. In dieser nimmt er die Verflechtungen von Zwangsarbeit und Industrie unter die Lupe.

Im März war Rous aber auch beteiligt an der Installation eines Denkmals in Liberec. Dieses erinnert an Kinder aus einem Lager für Sinti und Roma in der Stadt während des Zweiten Weltkriegs. Die Jungen und Mädchen wurden hinter Stacheldraht geboren und kamen nicht mehr frei, bevor sie von den Deutschen ermordet wurden. Im Interview für Radio Prag International sagt der Historiker über seine Forschungsarbeit zu dem Thema:

Archivzeichnung des Internierungslagers für Roma von 1941 bis 1943 | Foto: Archiv des Kreises Liberec

„Die Sache begann sehr einfach. Ich habe nach allen Arten von Lagern der nationalsozialistischen Zwangsarbeit gesucht in der Gegend von Liberec und Jablonec. Zudem gab es aus den 1960er Jahren eine Erwähnung, dass es bei einem Steinbruch ein Roma-Lager gegeben habe. Das war aber auch alles. Und lange Zeit konnten wir kein weiteres Material zu dem Lager finden.“

Erst der aus Liberec stammende Deutsche Rado Faltis brachte den Historiker auf den Weg. Denn er kannte die Romni Růžena B., die den Völkermord überlebt hatte. Und die heutige ältere Dame half dabei, jene Orte zu identifizieren, an denen sich Lager für Sinti und Roma befunden haben. Laut Ivan Rous müssen allein in der Gegend von Liberec vier von diesen bestanden haben.

Doch es brauchte noch längere Zeit, um mehr Fakten zusammenzutragen…

„Zunächst haben wir in den Archiven gesucht. Dadurch fanden wir heraus, dass das Lager für Sinti und Roma nahe Liberec mehrmals an einen anderen Ort verlegt wurde. Als erstes wurden die Internierten in einer bereits bestehenden Baracke am Steinbruch im Stadtteil Rochlice festgehalten, dann in einer Fabrik. Und letztlich wurde ein eigenes Lager gebaut, das von der Stadt dann 1941 auch als Konzentrationslager bezeichnet wurde“, so Rous.

Archäologen haben die Fundamente eines Internierungslagers für Roma an dem Ort entdeckt,  an dem die regionale Rettungsstation gebaut werden soll | Foto: Archiv des Kreises Liberec

Doch wie viele solche Lager gab es damals im „Sudetengau“? Das ist laut dem Historiker keine so leichte Frage. Gut erforscht und bekannt sind nur jene im „Protektorat Böhmen und Mähren“. Demnach bestanden in diesem Teil der vorherigen Tschechoslowakei vier Sammellager und zwei Zwangsarbeitslager für Sinti und Roma. Das bekannteste davon war Lety in Südböhmen, wo in Zukunft eine Gedenkstätte entsteht.

„Wir haben indes nur sehr wenige Informationen über die Lager in den tschechoslowakischen Grenzgebieten, die ab Oktober 1938 zum Sudetengau zusammengefasst waren. Wir wissen, dass es in Liberec noch ein weiteres Lager gab, kennen aber den genauen Ort nicht. In jedem Fall muss davon ausgegangen werden, dass noch weitere solche Lager bestanden – etwa in der Gegend von Ústí nad Labem und anderswo, wo der nationalsozialistischen Doktrin nach Roma und Sinti gesammelt werden sollten. In dem einen Lager, das wir erforscht haben, waren rund 130 Menschen gefangen gehalten“, erläutert Rous.

Das war eben das KZ in Liberec beziehungsweise in Reichenberg, wie die Stadt damals hieß. In diesem und in seinen Vorläufern waren jedoch längst nicht nur Familien von Sinti und Roma aus der Gegend interniert. Laut Rous gab es ebenso Insassen, die in Mittelböhmen oder anderswo in Nordböhmen geboren waren. Alle wurden aber wegen der nationalsozialistischen Rassenideologie umgebracht. Der Historiker:

„Wir haben herausfinden können, dass der erste Transport von dort nach Auschwitz ging. In diesem waren auch Kinder, die erst geboren wurden, als es das Lager in Liberec bereits gab. Unser Gedanke war dann, dass sie schwerlich in Freiheit zur Welt gekommen sein konnten, sondern höchstwahrscheinlich in dem Lager.“

Die Welt nicht kennenlernen dürfen

Das Thema beschäftigt Ivan Rous schon seit vielen Jahren. Bereits im Sommer 2018 initiierte er, dass am Ort des früheren Lagers in der Kunratická-Straße sieben Holzkreuze aufgestellt wurden – sie erinnern an kleine Jungen der Roma-Minderheit, die in ihren kurzen Leben nichts anderes als Unfreiheit und Leid erfahren haben.

Später wurden noch die Namen von vier Mädchen bekannt, die dasselbe Schicksal hatten und im Alter von einem bis vier Jahren den Tod fanden.

„Wir hatten diese sieben Jungen identifiziert, die in Liberec während der Existenz des Lagers geboren waren. Mein Historikerkollege Michal Schuster fand zudem noch die Namen der vier Mädchen. Insgesamt sind es also elf Kinder. Das Schlimme ist, dass wir überhaupt keine Informationen über sie haben. Sie wurden in Arbeitslagern geboren – und das einzige, was die Zukunft für sie bereithielt, war der Transport ins Vernichtungslager Auschwitz, wo sie ermordet wurden. Einige wenige wurden aber auch in die Konzentrationslager Buchenwald und Ravensbrück gebracht“, sagt Rous.

Foto: Lucie Fürstová,  Tschechischer Rundfunk

Dass aber nichts weiter bekannt ist über die Zustände und das Leben in dem Lager für Roma und Sinti in Liberec, liegt an der weiteren Entwicklung. 1941 war das entsprechende KZ eingerichtet worden, wurde aber zwei Jahre später wieder aufgelöst, als die Insassen nach Auschwitz deportiert worden waren…

„Schon 1943 entstand daraus ein Lager für französische Kriegsgefangene. Und dadurch ging die Erinnerung an die früheren Insassen verloren. Es gibt nur eine einzige Erwähnung. Sie betrifft einen Rom, der in ein Straflager geschickt wurde, weil er in dem Lager in Liberec eine Holztür kleingehackt hatte, um im Winter Brennholz zu haben“, so der Geschichtswissenschaftler.

In seiner bisherigen Forschungsarbeit hat Ivan Rous herausgefunden, dass allein in den beiden Bezirken Liberec und Jablonec nad Nisou / Gablonz über 330 Lager unterschiedlichen Typs bestanden haben müssen. Diese Zahl mag auf den ersten Blick groß erscheinen. Doch amerikanische Wissenschaftler haben 2013 eine Studie veröffentlicht, demnach das gesamte Unterdrückungssystem der Nationalsozialisten aus 42.500 Lagern und Ghettos bestand.

Lager der schlimmsten Kategorie

Das Lager für Roma und Sinti | Foto: Ivan Rous

Laut Rous waren einige der Lager in den genannten beiden Bezirken Ableger des Konzentrationslagers Groß-Rosen in Niederschlesien. Und weiter:

„Das Lager für Sinti und Roma gehörte zu der schlimmsten Kategorie. Das heißt, dass alle Insassen ermordet wurden. Es lag auf demselben Niveau wie die Konzentrationslager. Daraus ergibt sich eine moralische Verantwortung, an diesen Ort mit einem Denkmal zu erinnern.“

Deswegen wurden Anfang März die sieben Holzkreuze ersetzt durch einen großen Gedenkstein. Dieser ist aus Granit und wiegt sechs Tonnen. In den Block ist eine Tafel eingelassen, auf der die Namen der elf Kinder stehen sowie ein erläuternder Text. Das Nordböhmische Museum hat dabei mit Roma-Vereinen aus der Gegend zusammengearbeitet. Um die Finanzierung hat sich der Kreis Liberec gekümmert.

„Den Gedenkstein haben wir relativ schnell aufgebaut. Ich wollte keine Zeit verlieren mit einer Ausschreibung für die Gestaltung. Der Preis war auch sehr vernünftig, er lag bei unter 100.000 Kronen (rund 4000 Euro, Anm. d. Red.). Aber vor allem handelt es sich um einen solch großen Stein, der sicher noch lange Zeit stehen wird. Wir haben also zusammen mit einem örtlichen Steinmetz ein passendes Objekt ausgesucht und eine Bronzeplatte eingesetzt“, sagt Ivan Rous.

Foto: Radek Petrášek,  ČTK

Für Ivan Rous ist die Errichtung des Denkmals aber vor allem ein inneres Bedürfnis, wie er schildert:

„Als Museum haben wir an dem Ort des Lagers auch archäologische Untersuchungen vorgenommen. Genau in diese Zeit hinein kam meine Tochter zur Welt. Wenn man ein Kind hat, denkt man darüber nach, welches Leben es wohl haben wird, in welche Welt es geboren wurde. In dem Moment wurde mir klar, dass diese Roma-Kinder die Welt gar nicht kennenlernen durften. Deswegen halte ich den entsprechenden Satz im Text auf der Tafel für wichtig.“

Die Namen dieser Kinder waren Anton, Erika, Hilda, Max und Raimund Bamberger sowie Adolf Bernhardt, Maria Klimt und Erika, Fritz, Johann und Rudolf Richter.

Foto: Jana Švecová,  Tschechischer Rundfunk
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