In der Grenzzone

Alena Zemančíková (Foto: Marcela Benešová, Archiv des Tschechischen Rundfunks)
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Die Neuerscheinungen zur Leipziger Buchmesse beschäftigen uns weiter. Alena Zemančíková heißt eine Autorin, die sich mit einer literarisch eher vernachlässigten Region auseinandersetzt: mit Westböhmen. Ihr Roman „Geschichte in indirekter Rede“ von 2015 liegt nun auch auf Deutsch vor.

Alena Zemančíková  (Foto: Marcela Benešová,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Für ein kleines Kind sind Perlmuttscherben ein großer Schatz. Anna kann ihr Glück kaum fassen, als sie die hell glänzenden und schimmendern Splitter auf verlassenen Wegen nah am Eisernen Vorhang findet. Erst viel später, als Erwachsene begreift sie es. Es sind Relikte aus einer gar nicht allzufernen Vergangenheit, mit denen sie da gespielt hat: die Überreste der verlassenenen Knopffabriken im einst deutsch besiedelten Grenzstreifen in Westböhmen. Alena Zemančíková sät viele solcher Spuren in ihrem Roman „Geschichte in indirekter Rede“, und man muss aufmerksam lesen, um sie zu entdecken. Zunächst ist es ein Familienroman, doch schnell wird klar: Die Reise, auf die sich Ich-Erzählerin Anna begibt, geht viel tiefer.

Ausgelöst vom viel zu frühen Selbstmord ihres Bruders rekapituliert sie über mehrere Jahrzehnte das Schicksal ihrer Familie vor dem Hintergrund der sozialistischen Tschechoslowakei. Anna und ihr Bruder Vítek sind beide Mitte der 1950er Jahre geboren. Nach der frühen Trennung der Eltern werden sie „aufgeteilt“: Während die Erzählerin mit der Mutter im fiktiven Grenzstädtchen Chodov aufwächst, geht der Bruder mit dem Vater nach Prag, wird sträflich vernachlässigt und leidet sein Leben lang darunter. Es ist ein nüchterner und völlig unsentimentaler Blick, den Alena Zemančíková auf die Familie richtet. Daniela Pusch hat ihn in ein sehr passendes, lakonisches Deutsch übertragen. Klischees haben hier nichts zu suchen. Bier zum Beispiel ist kein lustiger Treibstoff, der Land und Leute zusammenhält, sondern einfach eine Droge, die den Bruder schleichend ins Grab bringt. „Es hätte ein schönes Familientreffen sein können, war es aber nicht“, heißt es einmal über eine missglückte Zusammenkunft der Geschwister mit ihrer Mutter. Der tiefste historische Einschnitt steht dabei am Anfang und trifft die ganze Familie im Mark: die lange, traumatische Phase der Normalisierung in den 1970ern und 1980ern. Nach dem Ende des Prager Frühlings und dem Einmarsch der Sowjettruppen 1968 wird Anna ungewollt zur Aussteigerin, weil sie zunächst einmal nicht studieren darf. Für den Bruder folgt auf die Invasion ein qualvoller Militärdienst. Die Mutter, einst Kommunistin aus Überzeugung, wird aus der Partei ausgeschlossen, verliert ihre Stelle in einer Bibliothek und wird Lageristin auf dem Güterbahnhof Prag-Žižkov. Nur der Vater profitiert von den Säuberungen und steigt trotz kaum vorhandener Qualifikation in eine leitende Position beim Fernsehen auf. Doch er bleibt eine Randfigur, wie viele andere in diesem Tableau von häufig wechselnden Familienkonstellationen, Partnerschaften und Umzügen. Fest an einem Ort verwurzelt sind eigentlich nur die beiden Großmütter, sie stammen noch aus einer völlig anderen Zeit. Für Anna und ihren Bruder gilt dagegen: Nichts ist für immer.

Rastlos zwischen Prag, Pilsen und Chodov

Foto: Verlag Klak
Atemlos, rastlos und manchmal auch ratlos folgt der Leser den Geschwistern fünfzig Jahre lang auf der Achse Prag-Pilsen-Chodov, entlang der sich ihr Leben entfaltet. „Der Wegzug ins Grenzgebiet war eine mutige Tat gewesen, die meine Mutter ernst meinte und vor der mein Vater bald kapitulierte“, heißt es einmal lapidar. Der Roman ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Tschechien abseits von Prag viel mehr Beachtung verdient. Während Jiří Hájíček, den wir in unseren Sendungen bereits vorgestellt haben, Südböhmen in den Focus rückt, kreist Alena Zemančíková in ihrem Werk seit langem um Westböhmen. Sie selbst ist in Tachov / Tachau, einer kleinen Stadt an der Grenze zu Bayern aufgewachsen, die Parallelen zu Chodov sind mehr als deutlich. Gerade für deutsche Leser ist es unglaublich aufschlussreich, wie Leben in diesem Gebiet vor 1989 aussehen konnte. Die vielen Neuangesiedelten, wie Anna und ihre Familie, stehen den wenigen Dagebliebenen – ein paar Deutsche, eine jüdische Lehrerin – oft ratlos gegenüber. Anna durchstreift die „Region der untergegangenen Dörfer und verlassenen Ruinen“, lernt Soldaten kennen, die Dienst im Grenzstreifen schieben und hat viele Fragen, auf die sie erst viel später Antworten findet. Dialoge gibt es keine. Schließlich handle der Roman von unausgesprochenen Dingen, erklärt Annas Lebensgefährte. Dabei hat die „Geschichte in indirekter Rede“ in der Übersetzung sogar eine Doppelbedeutung bekommen, die dem Originaltitel fehlt. Denn „přiběh“, wie es im Tschechischen heißt, ist eine Geschichte, eine Erzählung, nicht aber die Geschichte. Bei Alena Zemančíková sind die historischen Fundamente aber mindestens genauso wichtig. Ihre Spurensuche nach den familiären wie auch historischen Scherben ist unbedingt lesenswert.


Alena Zemančíková: Geschichte in indirekter Rede, übersetzt von Daniela Pusch, Klak-Verlag, Berlin 2019, 16,90 Euro

Autor: Annette Kraus
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