Die Geschichte der Charta 77 (Teil 2)

Künstlerversammlung im Prager Nationaltheater (Foto: CTK)

Die Charta 77, die vor dreißig Jahren gegründet wurde, war die wichtigste Bürgerrechtsbewegung in der Tschechoslowakei bis zur Samtenen Revolution im Jahr 1989. Im ersten Teil der Geschichte über die Charta 77 stand die erste Petition der Charta und ihre Gründungszeit im Mittelpunkt. Im zweiten Teil beschäftigt sich Andreas Wiedemann mit den Gegenmaßnahmen, die das kommunistische Regime ergriff, der Verfolgung der Chartisten und mit der Wirkung und Bedeutung der Charta 77.

Künstlerversammlung im Prager Nationaltheater  (Foto: CTK)
Auf die Entstehung der Charta 77 reagierte das kommunistische Regime mit Repressalien, Verleumdungen und mit der Mobilisierung einer organisierten und öffentlich demonstrierten Ablehnung der Petition. Im Radio und im Fernsehen wurden Resolutionen von Betrieben, Schulen, Genossenschaften, Krankenhäusern und Kirchen verlesen, in denen die Charta verurteilt wurde. Den vorläufigen Höhepunkt bildete eine Inszenierung besonderer Art im Prager Nationaltheater: Zahlreiche bekannte Künstler versammelten sich dort am 28. Januar 1977 und unterzeichneten ein Dokument, das später unter dem Namen "Anticharta" bekannt wurde. Diese Veranstaltung wurde live im Fernsehen und Radio übertragen. Die damals bekannte Schauspielerin Jirina Svorcova verlas eine Resolution der 'tschechoslowakischen Ausschüsse künstlerischer Verbände':

"Wir verachten diejenigen, die sich in unbezähmbarem Hochmut und eitler Überheblichkeit, aus egoistischem Interesse oder sogar für dreckiges Geld wo auch immer in der Welt - und auch bei uns wurde jetzt eine solche Gruppe von Abtrünnigen und Verrätern gefunden - ,von den eigenen Menschen, ihrem Leben und ihren wirklichen Interessen abgrenzen und isolieren. Sie werde mit unerbitterlicher Logik zu einem Werkzeug der antihumanistischen Kräfte des Imperialismus werden und in ihren Diensten zu Sprechern der Zersetzung und des Unfriedens zwischen den Völkern."

So Jirina Svorcova. Auch in anderen Theatern im ganzen Land wurden die Künstler zur Fahne gerufen. Eine weitere Veranstaltung dieser Art in Prag folgte am 4. Februar 1977 im Theater der Musik. Der Sänger Karel Gott sagte dort: "Es gibt Zeiten und Situationen, in denen es nicht reicht, nur zu singen. Darum reiht sich auch meine Stimme ein in den großen Strom der Künstler, die sich zu Sozialismus und Frieden bekennen: für ein noch schöneres Lied und eine noch schönere Melodie, für ein noch glücklicheres und freudigeres Leben dem Volke dieses Landes."

Jirina Svorocova  (Foto: CTK)
In Zukunft musste, wer weiterhin ohne Probleme in der Tschechoslowakei auftreten wollte, die Anticharta des kommunistischen Regimes unterzeichnen. In kurzer Zeit waren es bereits 2000 Künstler, die die Anticharta unterstützten.

Im Ausland, unter Dissidenten und Sympathisanten gab es schnelle Reaktionen auf die Veröffentlichung der ersten Charta-Petition. Am 17. Januar wurde in Paris ein internationaler Ausschuss zur Unterstützung der Charta gegründet, in dem unter anderem Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Arthur Miller und Graham Greene Mitglieder waren.

In der Tschechoslowakei machten paradoxerweise gerade die staatlichen Gegen-Kampagnen in Presse und Fernsehen die Charta im ganzen Land bekannt. Am 1. Februar 1977 konnte sie eine Liste mit weiteren 208 Unterzeichnern veröffentlichen. Im Verlaufe des Jahres verfasste die Charta 28 neue Texte, in denen sie unter anderem auf Verstöße gegen Menschen- und Grundrechte in der Tschechoslowakei und die Diskriminierung von Unterzeichnern der Charta, die zum Grossteil ihre Arbeit verloren hatten, hinwies. Der Dramatiker und spätere tschechische Präsident, Vaclav Havel, der zu den ersten Sprechern der Charta gehörte, wurde zum Beispiel von Januar bis Mai 1977 inhaftiert. Später musste er sogar für vier Jahre ins Gefängnis.

Die Schikanen gegen die Chartisten waren vielfältig und reichten von Einschüchterungen durch anonyme Drohbriefe, über Verhöre, bis zum Einziehen von Ausweisen, Wohnungskündigungen, Entlassungen, Nichtzulassung der Kinder zur Hochschule u.ä. Der Schriftsteller Pavel Kohout durfte nach der Verleihung des österreichischen Staatspreises für Literatur nicht mehr in die Tschechoslowakei zurückkehren. Viele der Chartisten wurden direkt oder indirekt zur Emigration gezwungen. Insgesamt verließen rund 300 Unterzeichner die Tschechoslowakei.

Zina Freundova zum Beispiel hatte fünf Jahre Philosophie und persische Sprachen studiert. Sie gehörte zur Gruppe der ersten Charta-Unterzeichner. Im Frühjahr 1981, als das kommunistische Regime von den Erfolgen der Soidarnosc-Bewegung im benachbarten Polen aufgeschreckt war und entschlossen war, die Charta zu zerschlagen, wurde Freundova verhaftet, verhört und eingeschüchtert. Auch vor körperlicher Gewalt schreckte die Geheimpolizei nicht zurück, wie Freundova berichtet:

"Früh morgens klingelte es an meiner Tür. Ich öffnete und sah für ein Sekunde einen Kerl, der auf mich sprang. Ich wollte schreien, aber er war darauf vorbereitet und hielt mir den Mund zu. Er schleifte mich über den Boden in die Küche. Da hat er mich an den Haaren festgehalten. Zwei weitere Männer kamen, die mich traten. Danach hatte ich blaue Flecken an den Beinen und im Gesicht. Der eine von ihnen stellte mir die gleichen Fragen, wie der Geheimdienst beim Verhör."

Zina Freundova fühlte sich in ihrem Leben bedroht und entschloss sich zur Ausreise nach England. Noch heute erinnert sie sich deutlich an das letzte Treffen mit ihren Freunden in Prag bevor sie in die Emigration ging:

"Meine Freunde bereiteten ein Picknick an einem Bach im Prager Park Divoka Sarka vor. Das war ein sehr seltsames Gefühl. Einerseits war ich froh, dass ich mit ihnen zusammen war, andererseits war es schrecklich, weil ich wusste, dass ich bald nicht mehr mit ihnen zusammen sein werde. Wenn ich daran zurückdenke, könnte ich fast heulen. Entschuldigung, wenn ich jetzt heulen muss."

Zina Freundova erhielt einen Pass, der sie zur Reise in eine Richtung berechtigte. Heute lebt sie abwechselnd in Prag und London, das allmählich zu ihrem zweiten Zuhause wurde.

Die Charta 77 lässt sich nicht ohne Weiteres mit Widerstandsbewegungen in anderen kommunistischen Ländern vergleichen, wie zum Beispiel mit der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc. Der Historiker Petr Blazek erläutert die Unterschiede:

"Die polnische Solidarnosc wurde zu einer nationalen Bewegung. Im Grunde genommen wurde sie zu einer stärkeren Bewegung als selbst die kommunistische Partei Polens. Die Charta 77 hingegen blieb sehr exklusiv mit mehr oder weniger durchschnittlicher kleiner Organisation, die aber natürlich mit Blick auf diese kleine Zahl großartige Sachen erreicht hat," sagt Blazek.

Chartisten
Der Solidarnoscs schlossen sich nach ihrer Zulassung über 10 Millionen Polen an. Die Charta verstand sich eher als offene Bürgerinitiative und nicht als organisierte Opposition. Für die Regimegegner in der Tschechoslowakei, die bereits vor 1980 in engem und häufigem Kontakt zu polnischen Dissidentenkreisen standen, war die Gründung der Solidarnosc aber ein wichtiger Impuls, mit der Kritik am kommunistischen Regime fortzufahren. Dana Nemcova, eine ehemalige Sprecherin der Charta, erklärt, warum die Charta statt spektakulärer Aktionen den Weg der ständigen Kritik und des Dialogs gewählt hat:

"Es wäre möglich gewesen, eine politische Tat zu begehen, die einen großen Knall verursacht und mehr nicht. Ich glaube aber, dass es vernünftiger war, ständig anzugreifen und die Skala des Nagens und Zehrens durch immer neue Tropfen zu erhöhen."

Aus den Netzwerken, die die Charta bildeten, entstand 1989 das "Bürgerforum" und aus ihm sind die Keimzellen vieler demokratischer Parteien hervorgegangen. Drei Jahr nach dem Ende des Kommunismus sahen die Chartisten keine Notwendigkeit mehr, weiter zu existieren und im Herbst 1992 gaben die letzten Charta-Sprecher ihre Auflösung dieser Bürgerrechtsbewegung bekannt.