Von den Bürgerrechten zur Samtenen Revolution – Charta 77

Foto: ČT24

Tschechoslowakische Intellektuelle haben einst das Regime herausgefordert, nur weil sie die Einhaltung der Menschenrechte verlangten: Vor 40 Jahren gründeten diese mutigen Menschen die Charta 77. Diese wurde zur Keimzelle der späteren Samtenen Revolution.

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Am 1. Januar 1977 veröffentlichen Bürgerrechtler in der ČSSR eine Erklärung. Dort taucht erstmals die Bezeichnung Charta 77 auf. Und zwar heißt es dort:

„Die Charta 77 ist keine Organisation, hat keine Statuten, keine ständigen Organe und keine organisatorisch bedingte Mitgliedschaft. Ihr gehört jeder an, der ihrer Idee zustimmt, an ihrer Arbeit teilnimmt und sie unterstützt. Sie will dem Gemeininteresse dienen, wie viele ähnliche Bürgerinitiativen in verschiedenen Ländern des Westens und des Ostens.“

KSZE-Schlussakte  (Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-P0805-314 / Sturm,  Horst / CC-BY-SA 3.0)
Die Verfasser des Textes berufen sich auf die KSZE-Schlussakte von Helsinki. Sie ist im März 1976 auch in der Tschechoslowakei in Kraft getreten. Und die Machthaber in Prag haben sich darin verpflichtet, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten. Dies gelte aber nur auf dem Papier, schreiben die Verfasser:

„Völlige Illusion ist zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, das durch den Artikel 19 der Schlussakte garantiert wird. Mehreren Zehntausend unserer Bürger wird es unmöglich gemacht, in ihrem Fach zu arbeiten, nur weil sie andere Ansichten vertreten als die offiziellen.“

Detailliert wird im Folgenden aufgelistet, wie die kommunistische Tschechoslowakei gegen die Menschenrechte verstößt. Sowohl der Text der Erklärung als auch die nun entstehende Bürgerrechtsbewegung werden im Folgenden als Charta 77 bezeichnet.

Die „Plastici“ gehen hinter Gitter

Jan Sokol  (Foto: Jan Bartoněk,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Erstes Engagement zeigen die Bürgerrechtler aber schon zwei Jahre zuvor. Einer der sogenannten Chartisten, der Philosoph Jan Sokol, erläuterte dieser Tage in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:

„Ich denke, der erste Schritt war der offene Brief von Václav Havel an den Staats- und Parteichef Gustav Husák. Das Schreiben hatte nicht den Charakter eines Appells an den Präsidenten, sondern sollte die Öffentlichkeit informieren.“

In dem Brief schreibt Havel am 8. April 1975 unter anderem, dass die tschechoslowakische Gesellschaft keineswegs konsolidiert sei, wie die Staatsführung glauben machen wolle. Viel mehr herrsche Angst und Gleichgültigkeit.

Plastic People of the Universe  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Bei einem ihrer Konzerte werden dann im Februar 1976 die Musiker der Band „Plastic People of the Universe“ verhaftet. Die „Plastici“, wie sie umgangssprachlich genannt werden, sind für die Machthaber unangenehm – sie wollen sich vor allem nicht in den offiziellen Kulturbetrieb einbinden lassen. Der Dichter Václav Havel, der Philosoph Jan Patočka und weitere Intellektuelle protestieren gegen die Verhaftung der Musiker. Auch aus dem Ausland kommt ein Aufschrei, so zum Beispiel von Schriftsteller Heinrich Böll. Das hat teilweise Erfolg und wird zum entscheidenden Anlass für die Charta 77.

Jiří Hájek  (Foto: Nationaal Archief,  CC BY-SA 3.0 NL)
„Aufgrund des Protests, unter anderem einer Unterschriftensammlung, kamen einige der Musiker frei. Das ließ glauben, dass Appelle tatsächlich Wirkung zeigen können – allerdings nicht in dem Sinn, dass sich das Regime völlig ändert. Ich hielt es aber für wahrscheinlich, dass sich über die Menschenrechte sachlich diskutieren lassen würde“, so Jan Sokol.

Das erweist sich jedoch bald als Illusion. Von Anfang an beobachtet die tschechoslowakische Staatssicherheit, die sogenannte StB, das Geschehen. Im Herbst 1976 finden drei Treffen der künftigen Chartisten statt. Dabei werden Václav Havel, Jan Patočka und Jiří Hájek zu den ersten Sprechern der Bewegung gewählt. Mit drei Sprechern soll die Meinungsvielfalt gewahrt werden.

Die Charta erscheint auf Deutsch

Havel, Patočka und Hájek sammeln zur Weihnachtszeit schon 242 Unterschriften unter den Text der Charta. Dieser wird außer Landes geschmuggelt und drei Zeitungen im Ausland übergeben, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Auf Deutsch, Französisch und Englisch erscheint die Charta 77 dann am 6. Januar 1977. Noch am selben Tag schlägt die StB zu: Václav Havel, sein Schriftsteller-Kollege Ludvík Vaculík und der Schauspieler Pavel Landovský werden verhaftet.



„Gescheiterte und Selbsternannte“  (Foto: ČT24)
Wenige Tage später entfesselt das Regime eine Hetzkampagne. In der Parteizeitung Rudé Právo erscheint der Artikel „Gescheiterte und Selbsternannte“. Dort heißt es unter anderem über die Charta 77:

„Es handelt sich um eine staatsfeindliche, antisozialistische, menschenfeindliche und demagogische Schandschrift, die grob und lügnerisch die Tschechoslowakische Sozialistische Republik und die revolutionären Errungenschaften des Volkes in den Dreck zieht. Die Autoren beschuldigen unsere Gesellschaft, dass das Leben nicht nach ihren bourgeoisen und elitären Vorstellungen gestaltet ist.“

„Anticharta“  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Ende Januar initiieren die Machthaber eine Gegenerklärung von Künstlern des Landes. Diese erhält später die Bezeichnung „Anticharta“. Manche unterzeichnen sie freiwillig, viele Künstler werden aber auch dazu gedrängt.

Die Chartisten aber haben sich in ihrer Erklärung verpflichtet, auf konkrete Fälle von Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Und das tun sie aus Überzeugung. Jan Sokol:

„Die grundlegende Tätigkeit der Charta war es, dazu sogenannte Dokumente zu erstellen. Daran arbeitete immer eine gewisse Gruppe von Menschen. Man muss aber wissen, dass die Charta nie eine Art Verein war, wir haben uns nie alle getroffen. Das war erst nach der Samtenen Revolution möglich. Die Aufgabe der Sprecher war, die Dokumente zu genehmigen und sie zu veröffentlichen. Sie haben diese Dokumente auch unterschrieben, die Autoren blieben hingegen anonym. Die Sprecher haben die Dokumente den Zeitungsredaktionen übergeben. Zudem wurden schriftliche oder telefonische Nachrichten durchgehend ins westliche Ausland weitergereicht. Vor allem Ivan Medek in Wien hat diese entgegengenommen. Und hierzulande wurde versucht, die Dokumente möglichst auch dem Parlament zu überreichen.“

Patočka stirbt nach Dauerverhör

Jan Patočka  (Foto: Jindřich Přibík,  Archiv von Jan Patočka,  CC 3.0)
Insgesamt fast 600 solcher Dokumente erscheinen in der Folge. Das Regime beginnt jedoch, die Chartisten systematisch zu verfolgen. Sprecher Jan Patočka wird nach einem Treffen mit dem niederländischen Außenminister Max van der Stoel immer wieder von der Staatssicherheit verhört. Bei einem elfstündigen Dauerverhör im März 1977 erleidet Patočka einen Schlaganfall und stirbt im Krankenhaus.

Obwohl die Gründer ausdrücklich geschrieben haben, die Charta 77 sei „keine Basis für oppositionelle politische Betätigung“, werden alle Beteiligten genau dorthin gedrängt. Dennoch unterzeichnen bis Ende 1988 fast 1500 tschechoslowakische Bürger die Charta. Und es sind längst nicht nur Künstler. Petr Tomíšek studiert damals Elektrotechnik in Prag. Er hat sich mit seiner Unterschrift bereits für die Plastic People of the Universe eingesetzt. Zu seinen Bekannten gehört die Psychologin Dana Němcová, eine der ersten Signatare der Charta. 1977 redet sie Tomíšek noch aus, die Erklärung zu unterschreiben. Sonst würde er seinen Studienplatz verlieren. Doch dann wird sie zwei Jahre später selbst verhaftet – und der Student setzt auch seinen Namen unter das Schriftstück. Und das mit Folgen: Im September 1979 wird er tatsächlich von der Hochschule geschmissen. Aber nicht nur das:

Foto: Tschechisches Fernsehen
„Eine weitere Folge war, dass ich 1980 verhaftet wurde. Zwei Herren von der StB gaben mir mehrere Paragraphen zur Auswahl, nach denen man mich verurteilen könnte. Ich entschied mich für Drogenbesitz, obwohl sie bei mir nie etwas gefunden haben. Mein Kalkül war, dass es dafür maximal zwei Jahre gibt. Das heißt Aufwiegelung zum Umsturz des Staates oder Aufruf zum Terror habe ich damit umgangen. Das war die kürzeste Option.“

Neun Monate sitzt Petr Tomíšek in Haft, danach folgt für ihn das Schicksal der meisten Dissidenten. Er darf nicht mehr studieren und muss sich als Industriearbeiter verdingen.

Die politische Berechtigung

Samtene Revolution  (Foto: Gampe,  CC BY 3.0)
Andere Oppositionelle werden zur Emigration gezwungen, besonders in den Jahren 1980 und 1981. Insgesamt 300 von ihnen gehen ins Exil in den Westen. Doch einige bekannte Chartisten bleiben im Land. Letztlich geht aus ihnen 1989 die Saat hervor für die Samtene Revolution. Jan Sokol:

„Die größte Rolle hatte die Charta darin, einer gewissen Gruppe von Menschen so etwas wie eine politische Berechtigung zu geben. Mehrere Hunderttausend Menschen wussten von ihnen, also von Václav Havel und weiteren, die bekannt waren. Man hörte Westradio und hat von ihnen erfahren. Und das Bürgerforum, das dann entstand, konnte sich auf diese Leute berufen und sich auf sie stützen. Denn sie hatten sich als Sprecher des nichtkommunistischen Teils der Gesellschaft bewiesen.“

Für Václav Havel bedeutete dies die Karriere vom Sprecher der Charta 77 zum tschechoslowakischen Staatspräsidenten.

Autor: Till Janzer
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