Die große Zwillingsstudie: Tschechen und Slowaken zwölf Jahre nach der Trennung

Vor mehr als 12 Jahren, konkret am 1. Januar 1993, trennten sich die Wege der Tschechischen und der Slowakischen Republik. Viele Menschen hätten damals zwar lieber weiterhin im gemeinsamen Staat Tschechoslowakei gelebt, doch über den wichtigsten Aspekt der Teilung sind sich heute eigentlich alle einig: Sie ging friedlich vor sich. Mittlerweile sind beide Staaten Mitglieder von EU und NATO und haben außer den sehr ähnlichen Landessprachen noch eine ganze Menge anderer Gemeinsamkeiten. Wie aber hat sich die Einstellung der Menschen seither verändert? Wodurch unterscheiden sich Tschechen und Slowaken voneinander? Und mit welchen Ängsten und Hoffnungen blicken sie in die Zukunft? Diesen Fragen sind zwei Meinungsforschungsinstitute - STEM aus Prag und IVO aus der slowakischen Hauptstadt Bratislava - nachgegangen. Kürzlich wurden die Ergebnisse der groß angelegten Studie präsentiert. Gerald Schubert war dabei und hat dazu folgenden "Schauplatz" gestaltet:

Altstädter Ring,  Prag
Die Meinungsforscher von STEM und IVO haben schnell reagiert: Unmittelbar nach der Teilung der Tschechoslowakei haben beide Institute beschlossen, eine gemeinsame Langzeitstudie zu erarbeiten, um später einmal, empirisch abgesichert, auf die Entwicklung beider Gesellschaften zurückblicken zu können. 1994 war die erste Befragungswelle bereits unter Dach und Fach. Danach hieß es zehn Jahre warten. 2004 kam die Vergleichsstudie, und dann ging es ans Auswerten der Daten, gewonnen aus der Befragung von insgesamt mehr als 5000 Menschen aus beiden Ländern.

Wer sich mit den nun vorliegenden Ergebnissen beschäftigt, der darf vor allem eines nicht außer Acht lassen: Die demokratische Wende in der Tschechoslowakei vollzog sich nur etwa drei Jahre vor der Teilung des Landes. Das, was die Westeuropäer in der Schule gelernt haben, nämlich dass Demokratie und Stabilität keine Selbstverständlichkeiten sind, das ist für viele Tschechen und Slowaken immer noch gelebte, oder besser gesagt gefühlte Realität. Vera Haberlová vom Meinungsforschungsinstitut STEM:

Bratislava
"Beide Staaten haben nach wie vor etwas gemeinsam: Nämlich, dass hinter den Problemen, die die Menschen für die wichtigsten halten, sowohl in Tschechien als auch in der Slowakei das Gefühl einer gewissen Unsicherheit zu spüren ist. Ein gewisse Angst davor, wie es weiter geht. Nur die Hierarchie der Probleme, die mit dieser Unsicherheit zusammenhängen, die ist unterschiedlich. In Tschechien liegt dabei eindeutig die Arbeitslosigkeit an der Spitze, gefolgt von Kriminalität, Korruption und allgemeinen Fragen der sozialen Sicherheit. Letztere sind wiederum bei den Slowaken die unangefochtene Nummer eins. Dort sind mehr als drei Viertel der Ansicht, dass vor allem Fragen der sozialen Sicherheit gelöst werden müssen."

Arbeitslosigkeit und soziale Sicherheit - zwei Bereiche, die natürlich eine ganze Menge miteinander zu tun haben. Daher wäre es auch unangebracht, hier von völlig gegenläufigen Sorgen und Ängsten zu sprechen. Was aber auffällt: In der Slowakei sind die Befürchtungen eher allgemeiner Natur, während sich in Tschechien ein differenzierteres Bild ergibt, eben mit der Angst vor dem Jobverlust an der Spitze. Die Arbeitslosigkeit in der Slowakei liegt aber traditionell höher als Tschechien. Allerdings - und das ist der zentrale Punkt: mit einer sinkenden Tendenz. In diesem Beispiel liegt wohl ein Schlüssel zum Gesamtverständnis der Untersuchung: Die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, die ist nämlich bei den Slowaken deutlich geringer als bei den Tschechen. Und dennoch kann Meinungsforscherin Vera Haberlová behaupten:

"In der gegenwärtigen Entwicklungsphase der beiden Gesellschaften sind die Slowaken die größeren Optimisten."

Zurückzuführen sei das paradoxerweise darauf, dass in der konservativ regierten Slowakei relativ einschneidende wirtschaftliche Reformen begonnen wurden, während die sozialliberale Regierung in Prag hier etwas vorsichtiger agiert. Mit anderen Worten: Viele Slowaken sind der Ansicht, es kann nur noch aufwärts gehen. In Tschechien hingegen tritt der Effekt ein, den man üblicherweise mit dem Erstarren des Kaninchens vor der Schlange vergleicht. Vera Haberlová vom Meinungsforschungsinstitut STEM:

"Die politische Entwicklung in der Slowakei hat, auch wenn sie für viele Leute erhebliche Komplikationen bringt, eine gewisse Dynamik und Ausrichtung. Ob die Menschen dieser Ausrichtung nun zustimmen oder nicht - sie ist jedenfalls klar erkennbar. In Tschechien hingegen herrscht schon seit geraumer Zeit große Ratlosigkeit, und das ist auch im Meinungsklima zu sehen. Die Tschechen sind ein bisschen mehr abgestumpft und haben gegenwärtig weniger Optimismus als die Slowaken."


Wir wollen Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, im Rahmen dieser kleinen Analyse nicht allzu vielen Prozentangaben aussetzen. Aber ganz ohne geht es eben doch nicht. Die Frage: "Wie wird Ihrer Meinung nach die finanzielle Situation Ihres Haushalts in fünf Jahren aussehen?" beantworteten 1994 40 Prozent der Tschechen mit "besser als heute", 2004 waren es nur noch 24 Prozent. Bei den Slowaken blieb die Antwort "besser" mit 27 Prozent konstant. Interessant ist jedoch vor allem folgendes Detail: 25 respektive 15 Prozent der Slowaken antworteten mit "weiß nicht", bei den Tschechen waren es jeweils ein oder null Prozent. Laut Olga Gyárfásová vom slowakischen Meinungsforschungsinstitut IVO ist dieser signifikante Unterschied kein Einzelfall:

"Eine kleine methodologisch-kulturologische Bemerkung am Rande: Man kann in dieser Untersuchung sehen, dass bei den Slowaken stets ein relativ großer Anteil mit 'Weiß nicht' geantwortet hat. Unter den Tschechen ist dieser Prozentsatz viel kleiner. Auch das ist ein interessanter Vergleich. Denn wir haben in beiden Ländern genau die gleichen Methoden angewandt, und trotzdem ist der Anteil derer, die 'Weiß nicht' sagen, in der Slowakei konstant höher. Wir sind also zu dem Schluss gekommen, dass es sich nicht um ein methodologisches Artefakt handelt, sondern um ein kulturelles Phänomen: Einer gewissen slowakischen Unentschlossenheit, Vorsicht, eventuell auch Unsicherheit, steht das Bedürfnis der Tschechen gegenüber, sich zu jeder Frage zu äußern und zu allem und jedem eine Meinung zu haben."


Ein Schwerpunkt der Untersuchung war natürlich auch die Unterstützung der EU- und der NATO-Mitgliedschaft in beiden Ländern. Die Ergebnisse fasst Jan Hartl vom Institut STEM zusammen:

"In Tschechien ist die Unterstützung für die Europäische Union vergleichbar mit der für die NATO. Beides liegt knapp über 50 Prozent. In der Slowakei aber ist der Unterschied zwischen der Wahrnehmung der EU und der der NATO relativ stark, die Zustimmung zur EU ist dort viel höher. Natürlich spielt dabei auch die Tatsache eine Rolle, dass die Slowakei der NATO erst vor kurzem beigetreten ist, wir Tschechen aber schon vor einer Reihe von Jahren."

Anders ausgedrückt: Der NATO- und der EU-Beitritt der Slowakei erfolgten relativ kurz nacheinander, und die Slowaken scheinen ihre Zuneigung dabei eher der Europäischen Union zu schenken. In Tschechien liegen die beiden Termine weiter auseinander, die beiden Institutionen bestehen sozusagen gleichberechtigt in den Köpfen der Menschen.


Nach so viel "Nachbarschaftlichkeit" mit den Slowaken wollen wir zum Abschluss doch auch noch das Verhältnis zu den Deutschen ins Spiel bringen. Vera Haberlová:

"Im Vergleich zu den tschechisch-slowakischen Beziehungen gibt es zwischen Tschechen und Deutschen natürlich schon eine etwas größere Distanz. Man muss aber noch hinzufügen, dass das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen sehr stark generationsabhängig ist. Im Verhältnis zu den Slowaken ist das eher nicht der Fall. Wohl auch deshalb, weil sich die jüngeren Leute hier für die Teilung von der Slowakei und für das frühere Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat nicht mehr so interessieren. Was aber das Verhältnis zu den Deutschen betrifft: Das ist bei der jüngeren Generation eindeutig besser als bei älteren Menschen. Ganz allgemein würde ich jedoch sagen: Die Tschechen und die Deutschen haben eine normale positive Nachbarschaftsbeziehung."

In den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen spielen außerdem ganz bestimmte Gesichtspunkte, beispielsweise ökonomische oder auch historische Aspekte, eine große Rolle, sagt Haberlová. Zwischen Tschechen und Slowaken ist das anders. Es ist wie bei Geschwistern: Man denkt nicht darüber nach, worauf das Verhältnis gegründet ist. Es ist einfach so.