„Die Immunität schützt die Institutionen“ – Verfassungsjuristin Wagnerová über die Strafverfolgung von Abgeordneten
Das politische Establishment der Tschechischen Republik musste in den vergangenen Monaten schwer schlucken: Gegen viele Abgeordnete wurden wegen krimineller Machenschaften ermittelt und einige mussten sich vor Gericht verantworten. Immer wieder ein Thema ist dabei die Immunität der Abgeordneten und Senatoren. In Tschechien gilt sie ein Leben lang und sollte eigentlich die Mandatsträger vor willkürlicher Strafverfolgung schützen. Eliška Wagnerová hat sich bereit erklärt, für Radio Prag Licht in die komplizierte Materie zu bringen. Die 64-jährige Juristin war zehn Jahre lang stellvertretende Vorsitzende des tschechischen Verfassungsgerichts. Bei den kommenden Senatswahlen im Herbst tritt sie für die Grüne Partei in der mährischen Metropole Brno / Brünn an.
„Hier ist Paragraph 160 des Strafgesetzbuches zuständig. Er besagt Folgendes: Sollten die Ermittlungen darauf hinweisen, dass eine bestimmte Person eine Straftat begangen hat, entscheidet die Polizei über die Eröffnung einer Strafverfolgung gegen die Person. Bevor sie beginnen kann, gegen die konkrete Person zu ermitteln, muss die Polizei das Abgeordnetenhaus bitten, den Abgeordneten von seiner Immunität, sagen wir einmal, zu ‚befreien’. Fakt ist, dass dem Abgeordnetenhaus für einen solchen Fall keine schriftlich fixierten Regelungen aus dem Gesetzbuch oder der Verfassung zur Verfügung stehen, wie es über die Bitte zur Auslieferung eines ihres Mitglieds an die Strafverfolgung entscheiden oder urteilen soll. Die Literatur, die Rechtssprechung sowie Entscheidungen von Verfassungsgerichten weltweit und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gehen davon aus, dass das Abgeordnetenhaus hierbei nicht völlig frei entscheiden kann, ob es die Immunität aufhebt oder nicht. Das Parlament muss verständlicherweise sicherstellen, dass der Abgeordnete oder Senator durch eine willkürliche Strafverfolgung nicht, auch nicht vorübergehend, an der Ausübung seiner Funktion gehindert wird. Eigentlich schützt die Immunität aber die Institutionen, also das Parlament. Die Immunität ist nichts, was in erster Linie den Abgeordneten oder Senatoren einen Vorteil bringen soll.“
Abgeordnete sind gewählte Vertreter des Volkes, die ein Mandat wahrnehmen sollen. Wie wird ihnen das ermöglicht, wenn sie, wie zum Beispiel David Rath, in Untersuchungshaft sitzen?„Das ist ein großes Problem. Weder die tschechischen Rechtsvorschriften noch die Verfassung oder die Sitzungsordnung gehen darauf ein. In einem Fall wie bei David Rath, bei dem ein Abgeordneter oder Senator auf frischer Tat ertappt wurde, haben wir den etwas problematischen Verfassungsartikel Nummer 27. Im fünften Absatz dieses Artikels ist festgelegt: Falls ein Abgeordneter oder Senator bei einer Straftat oder unmittelbar danach festgenommen wird, muss der Vorsitzende der zuständigen Kammer des Parlaments innerhalb von 24 Stunden seine Zustimmung zu einer Übergabe des Täters an ein Gericht geben. Andernfalls muss die Polizei die Person wieder freilassen. Diese Entscheidung muss dann auf der nächsten regulären Sitzung des Parlaments bestätigt werden, es entscheidet dann definitiv über die Übergabe des Verhafteten an das Gericht. Diese Verfügung war Gegenstand einiger Beschwerden, Streitigkeiten und Interpretationen, aber die jetzige Deutung ist nun mal gültig.“
Müssen Abgeordnete nach einer rechtskräftigen Verurteilung durch ein Gericht ihr Mandat niederlegen? Wenn ja: Gibt es eine Nachfolgeregelung? Falls nein: Wie sollen sie ihr Mandat aus dem Gefängnis fortführen?
„Ich muss leider wieder sagen, dass auch diese Situation nicht in der Verfassung oder in anderen Gesetzen angesprochen wird. Weitere Bestimmungen der Verfassung lassen sich aber so interpretieren, dass ein verurteilter Abgeordneter oder Senator, dessen persönliche Freiheit eingeschränkt wurde, sein Mandat weiterhin innehat. Er selbst muss sein Mandat nicht niederlegen, das schreibt ihm niemand vor. Die Verfassung sieht aber auch kein Erlöschen des Mandats in einer solchen Situation vor, mit anderen Worten: Das Mandat bleibt erhalten, wird aber faktisch nicht ausgeübt. Die Mehrheit der Theorien geht hier davon aus, dass es sich hierbei um eine Möglichkeit handelt, das Mandat als solches zu schützen. Der Fall lässt sich vergleichen mit einem erkrankten Abgeordneten, der sein Mandat ebenfalls nicht ausüben kann.“
Bei David Rath war der Fall eindeutig, er wurde dabei erwischt, wie er Bestechungsgeld angenommen hat. Wie aber ist der Fall Parkanová zu bewerten? Ist eine Strafverfolgung für die politische Entscheidung, ein bestimmtes Flugzeug zu kaufen, zulässig?„Wie ich schon zu Beginn gesagt habe: Der Grund für die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen einen Abgeordneten ist der gleiche wie bei jeder anderen Person. Die ermittelten Tatbestände müssen darauf hinweisen, dass eine bestimmte Person eine Straftat verübt hat. Ob die Entscheidung, ein bestimmtes Flugzeug zu kaufen, eine streng politische Entscheidung war oder ob sie nur teilweise politisch getroffen wurde, wird Gegenstand der Ermittlungen sein. Ich glaube fast, dass die politische Phase der Entscheidung sich bis auf die Regierungsebene erstreckt, nichtsdestotrotz hatten die Phasen vorher, die Vorbereitung und die Umsetzung, für mich eher einen administrativen als einen streng politischen Charakter. Wenn das stimmt und es sich eher um einen Verwaltungscharakter handelt, unterliegt die Entscheidung den Maximen, die auf dieser Ebene gelten.“
Finanzminister Kalousek und auch Premier Nečas hat die tschechische Polizei beschuldigt, im Fall Parkanová politisch zu handeln. Nečas hat den Polizeipräsidenten einen politischen Aktivisten genannt. Überschreitet die Polizei aus Sicht der Verfassung ihre Kompetenzen?
„Diese Anschuldigungen sind in der Tat sehr schwerwiegend. Ich muss hier davon ausgehen, dass jedes Staatsorgan unter der Voraussetzung der Rechtmäßigkeit handelt. Über die Unrechtmäßigkeit einer solchen Handlung kann nur das zuständige Organ entscheiden. Im gegebenen Fall ist also die Staatsanwaltschaft am Zug, die das Handeln der Polizei beaufsichtigt. Und in der letzten Instanz müsste ein Gericht darüber entscheiden, ob die Polizei rechtmäßig gehandelt hat oder nicht. Auf jeden Fall sind diese Vorwürfe verfassungsrechtlich nicht haltbar. Ich denke, sie sind auch ziemlich schädlich für das Vertrauen der Bürger in die Institutionen. Auch die Auslieferung einzelner Abgeordneter und Senatoren ist eigentlich eine Frage des Aufbaus von Vertrauen in die Institutionen. Wären jetzt diese Abgeordneten nicht ausgeliefert worden, hätte das die Gesellschaft überhaupt nicht verstanden. Ein juristisches Problem ist allerdings die Konstruktion der Immunitätsregelung in unserer Verfassung: Eine Nicht-Auslieferung würde dazu führen, dass eine Strafverfolgung für immer unmöglich wäre, auch nachdem das Mandat erloschen ist. Das ist sehr unglücklich. Es wurde von Beginn an von vielen kritisiert und es gibt ja Bemühungen, die Immunitätsregelung zu ändern. Zuletzt hat leider der Senat eine Verfassungsänderung vereitelt, das tut mir sehr leid. Der Gesetzesentwurf wird nun erneut vorgelegt und ich hoffe wirklich sehr, dass es zu einer Europäisierung unserer Verfassung kommt. Wenn es klar und ersichtlich ist, dass die Nicht-Auslieferung eines Abgeordneten oder Senatoren keine lebenslange Straflosigkeit mehr bedeutet, wird das Parlament auch mehr Gründe finden, seine Ganzheit und Ungestörtheit zu schützen und muss weniger ausliefern.“