Die Neubesiedlung der Sudetengebiete nach Mai 1945
Anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes war dieses Jahr viel die Rede über die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, weniger allerdings darüber, wie die ehemaligen Sudetengebiete nach Mai 1945 aussahen? Dies erfahren Sie nun im heutigen Kapitel aus der tschechischen Geschichte von Katrin Bock.
Die Neubesiedlung jener sudetendeutschen Gebiete ist bis heute sowohl in Tschechien als auch in Deutschland mit einigen vagen, oftmals falschen Vorstellungen verbunden. Der Historiker Dr. Andreas Wiedemann, der seine Dissertation über dieses Thema schrieb und sich auch sonst damit eingehend befasst, räumt heute für Sie mit einigen dieser falschen Vorstellungen auf. Zunächst einmal: im Herbst, Winter 1945 hatte das so genannte Sudetengebiet wahrscheinlich die meisten Bewohner in seiner gesamten Geschichte - wieso, das erfahren Sie von Andreas Wiedemann:
Im November und Dezember1945 waren schon knapp eine Millionen Neusiedler in die Grenzgebiete gewandert. Die Vorstellung, dass die Neusiedler in menschenleere Gebiete kamen, aus denen die deutsche Bevölkerung vorher vertrieben worden war, stimmt in dem Sinne nicht, weil die Vertreibung und die Besiedlung Prozesse waren, die parallel abliefen und eng miteinander verbunden waren. D.h., die Neusiedler kamen in Gebiete, in Städte, Dörfer, in denen zum größten Teil noch deutsche Bevölkerung lebte.
Dieses Zusammenleben von tschechischen Neusiedlern und deutschen Alteingesessenen brachte natürlich viel Zündstoff mit sich, aber nicht nur.
Es gibt das Phänomen, dass Wochen oder Monate lang noch beide Familie sozusagen unter einem Dach lebten. Dass es da sowohl Konflikte gab, das liegt auf der Hand. Aber man kennt aus Mikrostudien auch das Phänomen, dass tschechische Neusiedler von deutschen Bauern teilweise Tipps behalten haben, wie man denn jetzt diesen Hof zu führen hat. Aber das waren Einzelfälle. Natürlich war das Jahr 1945, besonders der Sommer 45 geprägt durch die wilde Vertreibung, durch zahlreiche Konflikte, die nicht nur auf der Ebene liefen zwischen Deutschen und Tschechen, sondern auch zwischen tschechischen Neusiedlern und tschechischen Alteingesessenen gerade in der Frage der Behandlung der deutschen Bevölkerung.
In Deutschland ist die Vorstellung verbreitet, dass die tschechischen Neusiedler Häuser, Höfe, Felder und Betriebe umsonst bekommen haben:
Die beschlagnahmten und konfiszierten Besitztümer der deutschen Bevölkerung wurden de facto nicht verschenkt, sondern es mussten dafür Übernahmepreise entrichtet werden, die allerdings sehr niedrig waren und teilweise eher symbolischen Charakter hatten. Die Bauernhöfe, der landwirtschaftliche Boden wurden auch zu sehr niedrigen Preisen veräußert. Es ist wichtig zu wissen, dass es nicht verschenkt wurde, sondern dafür auch Übernahmepreise entrichtet werden mussten, weil diese teilweise später als Hebel benutzt werden konnten. Als es um die Kollektivierung in der Landwirtschaft ging, waren die Schulden, die dann die neuen Bauern bei dem nationalen Bodenfonds hatten, ein Mittel um die Kollektivierung voran zu treiben, indem nämlich den Neubauern angeboten wurde, also wenn ihr jetzt in die Genossenschaft eintretet, dann werden euch die Schulden erlassen.
Von den insgesamt 204.200 von Deutschen konfiszierten Häusern wurden in den ersten Nachkriegsjahren 180.000 an Neusiedler verkauft.
Wurde die Neubesiedlung irgendwie organisiert? Gab es eine extra Behörde oder ein Amt?
Die ersten Siedler, die jetzt aus Prag oder anderen Gebieten in die Grenzgebiete wanderten, wanderten spontan aufgrund der Aufrufe, die es in der Presse gab oder Presseartikel, die dazu aufriefen, den Besitz der Deutschen unter nationaler Verwaltung zu übernehmen. Es gab freilich Behörden dann, die gegründet wurden, die sich mit der ganzen Organisierung des Besiedlungsprozesses befasst haben. Das Besiedlungsamt in Prag nahm erst im Herbst 1945 seine Arbeit auf. Dass heißt, man kann ab Herbst 1945 von einer organisierten Besiedlung oder den Versuch einer organisierten Besiedlung sprechen. Für den Sommer 1945 könnte man den Begriff unorganisierte Besiedlung oder - als Pandon zur wilden Vertreibung könnte man auch sagen, das ist eine wilde Besiedlung. Natürlich ist die Vorstellung nicht ganz richtig, dass es im Sommer 1945 absolut unorganisiert war. Die gegründeten Nationalausschüsse vor Ort in den Städten und Bezirken waren natürlich bemüht, die Siedlerströme zu lenken und zu gucken, dass die Verteilung der neuen Bewohner halbwegs organisiert ablief.
Wie war eigentlich das Interesse der Tschechen dahin zu gehen? Waren das vor allem solche Abenteurer in den ersten Monaten, die für sich selbst etwas herausholen wollten?
Die Zuwanderer im Sommer 45 waren in erster Linie darum bemüht, die Chance zu ergreifen, ihre soziale, wirtschaftliche oder Lebenssituation zu verbessern - in der Hoffnung in den Grenzgebieten eine bessere Arbeitsstelle oder einen besseren Posten zu bekommen, z.B. als so genannter nationaler Verwalter eines Betriebes. Das war schon der maßgebliche Antriebsgrund, um überhaupt den Wohnort zu wechseln. Natürlich gab es bei den ersten Siedlern auch die Rückkehrer, also ehemalige Bewohner der Grenzgebiete, die 1938 oder danach die Grenzgebiete verlassen haben und nun zurückkehrten. Natürlich haben wir auch das Phänomen der Plünderer und der Goldgräber, die Zlatokopci, wie sie genannt wurden, die in die Grenzgebiete gingen, mitnahmen, was nicht Niet- noch Nagelfest war oder in kurzer Zeit möglichst viel Gewinne gemacht haben, um dann wieder wegzugehen.
Josef Skrabek erlebte die Zeit der Neubesiedlung und Goldgräber als 17jähriger in seinem Heimatdorf Waltsch-Valec bei Karlovy Vary-Karlsbad. Aus diesem war er mit seiner deutschen Mutter und tschechischen Vater nach dem Münchner Abkommen im Herbst 1938 geflohen. Im Sommer 1945 kehrte Josef Skrabek zurück:
Das waren Tschechen aus Polen und Tschechen aus dem Böhmerwald und auch einige Slowaken sind gekommen. Es waren verschiedenste Leute dort und es haben dort viele nicht ausgehalten. Ich kenne zum Beispiel eine Familie, die war in einem Haus, dann wollten sie ein anderes nehmen und dann sind sie weitergegangen von Waltsch nach Burgau, von Burgau nach Karlsbad und die sind dann verschwunden noch hinter Eger. Immer weiter und weiter. Zum Beispiel ein Grund, warum sie ein Haus verlassen haben, war, dass dort kein Brennholz mehr vorbereitet war. Dann sind sie wo anders hingegangen. Aber das waren schon Ausnahmen.
Die Neubesiedlung der Sudetengebiete war lange Jahre vergessen, niemand interessierte sich für dieses Thema. Damals - vor 60 Jahren - war es allerdings ein Thema, das die ersten Seiten der Zeitungen ebenso füllte wie Radiosendungen, über das Romane geschrieben und über das vor allem heftig diskutiert wurde:In den großen Tageszeitungen konnte anhand von Zeitungsartikeln im ganzen Land verfolgt werden, wie die Besiedlung verlief. Das war ja so, dass es da auch nicht immer eine einheitliche Meinung unter den politischen Parteien und Politikern über die Durchführung und Ziele der Besiedlungspolitik gab. Die kommunistische Partei besetzte die wichtigsten Schlüsselpositionen im Bereich der Besiedlungspolitik. Es gab bis 1948 große Auseinandersetzungen über spezielle Fragen der Besiedlung, also über das bereits erwähnte Goldgräberphänomen wurde auch in der Presse gestritten. Die Besiedlung war insgesamt auf jeden Fall ein Prozess, der nicht im Geheimen ablief, und an dem eigentlich das ganze Land beteiligt war.
Der tschechoslowakische Präsident Edvard Benes bereiste in den ersten Nachkriegsjahren die Sudetengebiete, um sich persönlich ein Bild vom Wiederbesiedlungsprozess zu machen. In erster Linie betonte Benes in seinen dort gehaltenen Reden, wie froh nun alle Tschechen sein könnten, endlich unter sich zu sein - doch hie und dort war auch Kritik zu hören, wie in folgender Rede, die Benes im Juni 1947 im südmährischen Znojmo-Znaim hielt:
Ich verfüge über genaue Nachrichten, wie die Besiedlung unserer Grenzegebiete von statten geht. Einige Kreise habe ich selber besucht... Man muss feststellen, dass insgesamt viel gute und begeisterte Arbeit geleistet wurde. Aber ich weiß auch, dass hier und da Fehler begangen wurden und es zu unschönen Plünderungen kam. .. Karrieristen und Opportunisten haben die Gelegenheit ergriffen, die ihnen günstig erschien. Aber dies sind nur vereinzelte Übergangserscheinungen. Die Grenzgebiete werden bereits von diesen ausgesprochen asozialen Elementen gesäubert.
1952 wurde der Prozess der Neubesiedlung der ehemaligen Sudetengebiete für beendet erklärt. Die Grenzegebiete hatten nun ca. eine Millionen weniger Einwohner als vor dem Zweiten Weltkrieg. Viele Dörfer und Höfe verfielen und verschwanden mit der Zeit vollständig von der Landkarte. Die neuen Bewohner jener Landstriche fühlen sich heute dort längst zu Hause, wie Josef Skrabek in seinem Heimatdorf Waltsch-Valec feststellen kann:
Aber ich bin nicht ganz mit dieser Behauptung einverstanden, wenn man sagt, diese Leute haben keine Beziehung zu ihrem Heim, diejenigen, die jetzt dort wohnen. Es ist ja schon teilweise die dritte Generation und diese Leute haben schon Beziehungen. Dort auf den Friedhöfen sind nicht die Urgroßväter da, aber es sind schon Leute, welche dorthin gekommen sind und schon 1946 oder 1947 gestorben sind, das sind auch schon über 50 Jahre. Aber es ist nicht mehr wahr, dass die Leute es nicht als ihre Heimat betrachten. Das ist schon die Heimat dieser Leute.
Der Historiker Andreas Wiedemann, der im heutigen Geschichtskapitel zu hören war, widmet sich auch weiter diesem Thema und bereitet in einem internationalen Team die Herausgabe von Dokumenten jener Jahre vor.