Die Samtene Revolution: 10 Tage im Licht der Agenturmeldungen

November 1989 in Prag

Prag, 17. November 1989. Eine Demonstration von Studenten, offiziell eigentlich dem Gedenken an die Schließung der tschechischen Hochschulen durch die Nazis 50 Jahr zuvor gewidmet, wird zum Fanal für das Ende der kommunistischen Herrschaft. Noch wird die Kundgebung von der Polizei gewaltsam niedergeschlagen, aber die Demokratisierungswelle in Osteuropa hat nun endgültig auch die Tschechoslowakei erfasst. Wie hat eigentlich die Nachrichtenagentur ČTK über die Ereignisse berichtet? Und wie wurden diese Meldungen aufgenommen – auch bei uns, in der Deutschen Redaktion von Radio Prag? Gerald Schubert hat im Archiv der ČTK gewühlt, Originalmeldungen aus jenen Tagen ausgegraben und sich darüber mit Jitka Mládková unterhalten, die schon damals bei Radio gearbeitet hat.

Jitka Mládková
GSch: Die Nachrichtenagentur ČTK war schon 1989, also zur Zeit der Samtenen Revolution, eine wichtige Quelle für Radio Prag, und sie ist es auch heute noch. Wenn man über den Internetzugang der ČTK die alten Nachrichten liest, dann sehen diese Nachrichten aus, als wären sie neu und aktuell, weil die alten Meldungen einfach in das System eingespeist wurden. Aber das Internet gab es damals natürlich in dieser Form noch nicht. Beginnen wir daher mit dem technischen Aspekt. Wie muss man sich die Arbeit mit der Nachrichtenagentur im Jahr 1989 eigentlich vorstellen?

ČTK-Infobank
JM: Das ist mit heute überhaupt nicht zu vergleichen. Man muss sich einen großen Holzkasten vorstellen, in dem ein Fernschreiber untergebracht war. Der tuckerte pausenlos und spie kilometerweise Nachrichten aus der ganzen Welt aus. Damals hatte Radio Prag nämlich den Auftrag, über weltweite Ereignisse zu berichten, und nicht nur über Ereignisse hierzulande. Wenn etwa in Zentralafrika etwas passiert ist, dann musste auch Prag darüber informieren, aus dem Blickwinkel des damaligen Regimes natürlich. Während eines Nachrichtendienstes mussten wir immer wieder zu dieser Maschine laufen, einen oder zwei Meter Nachrichten abreißen und wieder zurück rennen, um die „allerwichtigsten“ herauszupräparieren, zu übersetzen und zu bearbeiten.

GSch: Gehe ich recht in der Annahme, dass die Arbeit damals mehr darin bestanden hat, die offiziellen Meldungen der ČTK zu übersetzen und dann im Studio vorzulesen, und weniger in der eigenen Recherche, so wie wir das heute tun?

JM: Genau. Und das alles lief natürlich auch in der Regie eines – wie soll ich es benennen? – eines „Befehlshabenden“. Das war der Chef vom Dienst, einer der leitenden Redakteure, und der hat uns immer angewiesen, welche die so genannten Pflichtnachtrichten sind. Und er hat uns natürlich auch kontrolliert.

Gerald Schubert
GSch: Kommen wir zum 17. November. Da gab es die erste große Demonstration, die als Auslöser der Samtenen Revolution in der damaligen Tschechoslowakei gilt, als Anfang vom Ende des kommunistischen Regimes. Ich habe mir angesehen, was zu dieser Zeit in der ČTK eigentlich geschrieben wurde. Am 17. November gab es darüber gar nichts – die Demonstration fand erst in den Abendstunden statt. Erst am 18. November geht es los. Ich habe einfach den Suchbegriff demonstrace eingegeben, also Demonstration, um zu sehen, was die Agentur ausspuckt. Am 18. November steht in einer Meldung:

„Die Ordnungskräfte haben die Teilnehmer der nicht genehmigten Veranstaltung mehr als 50 Minuten lang dazu aufgerufen, die Straße zu räumen, damit der Verkehr wieder fließen kann.“

17. November 1989
GSch: Das ist schon sehr prosaisch. Man hat ganz offensichtlich versucht, das Ganze herunterzuspielen und gar nicht als große Demonstration zu charakterisieren. Wie war für dich damals die Nachrichtenlage? Hast du mehr gewusst als das, was in der ČTK geschrieben wurde?

JM: Der 18. November war ein Samstag. Du hast vorher gesagt, es ging am 18. los. Das stimmt auch, aber eigentlich nur für die Akteure, die am Freitag selbst auf der Demonstration waren. Für die Mehrheit der Bevölkerung war es glaube ich ein normales, ruhiges Wochenende. Hätte ich damals am Samstagabend nicht den Deutschlandfunk gehört, dann hätte ich zum Beispiel auch nicht gewusst, dass es angeblich einen Toten gegeben hat.

GSch: Ich saß damals in Wien vor dem Radio und habe die Nachricht von diesem Toten ebenfalls gehört. Martin Šmíd hieß er. Ich habe ihn vor einigen Jahren hier bei uns interviewt. Er war ja gar nicht tot, es hatte sich lediglich um ein Gerücht gehandelt. Wie hast du das damals wahrgenommen? War bald klar, dass die Nachricht gar nicht stimmt?

ČTK-Infobank
JM: Ich habe das erst später erfahren. Zunächst einmal war ich natürlich geschockt. Denn dass bei einer Demonstration jemand getötet wird, so etwas gab es hier zuvor nicht. Aber schon am Sonntag wurde im Rundfunk bekannt gegeben, dass Martin Šmíd lebt. Die ursprüngliche Meldung wurde also dementiert.

GSch: Kommen wir zum 20. November, zum Montag. Da gibt es plötzlich sehr interessante Entwicklungen. Die tschechoslowakische Nachrichtenagentur ČTK zitiert hier etwa die sowjetische Nachrichtenagentur TASS. Das konnte man gefahrlos tun, immerhin galt die Sowjetunion als großer Bruder, der angab, woher der Wind weht. Hier folgender Auszug:

„Die Bürger drückten ihre Unzufriedenheit mit dem Ablauf von Umbau und Demokratisierung aus, und lehnen die Maßnahmen der staatlichen Organe ab.“

17. November 1989
GSch: Umbau und Demokratisierung – auch deutschen Hörern sind hier die russischen Begriffe Perestrojka und Glasnost wahrscheinlich besser vertraut. Und die Maßnahmen der staatlichen Organe, das sind wohl die Übergriffe der Polizei gegen die Demonstranten am 17. November. Wenn die sowjetische Nachrichtenagentur TASS so etwas schreibt, und die ČTK das dann übernimmt, war das dann nicht ein echter Aufbruch? Hat man zu diesem Zeitpunkt schon gefühlt, dass es nun keinen Weg zurück mehr gibt?

JM: Diese Nachricht liegt 19 Jahre zurück. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob das ein Durchbruch war. Im Gegenteil, ich zweifle daran, dass wir ausgerechnet diese Nachricht gebracht haben. Denn am selben Tag, also am Montag, haben die Regierung und die Parteiführung das Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten befürwortet. Und was die Perestrojka bzw. den Umbau anbelangt: Das waren damals zwar häufige Worte in dem Medien, aber das galt vielmehr nach außen hin. Von einer Perestrojka, wie sie in der Sowjetunion bereits lief, konnte man hier überhaupt noch nicht sprechen.

Václav Havel 1989
Gsch: Dennoch haben sich die Redakteure der ČTK offensichtlich schon frei genug gefühlt, um an diesem 20. November nicht nur die TASS zu zitieren, sondern auch die deutsche DPA, die österreichische APA und Reuters.

Gsch: In der Woche nach dem 17. November habe ich im Archiv der ČTK noch einen Suchbegriff eingegeben, und zwar das Stichwort Havel. Mich hat interessiert, wann der Name in der ČTK zum ersten Mal im Zusammenhang mit den Demonstrationen auftaucht. Das war am 21. November. Wieder ist von einer Demonstration die Rede, und es gibt hier eine Aufzählung von Rednern, die teilgenommen und zu den Menschen gesprochen haben. Einer davon ist

„… der Dramatiker und Schriftsteller Václav Havel.“

Demonstration auf der Letná-Ebene am 25.11.1989  (Foto: ČTK)
Gsch: Also der spätere Präsident. War Havel damals eigentlich schon bekannt? Hat man ihn mit der Demokratisierungsbewegung verknüpft?

JM: Er ist am 21. November zum ersten Mal vor den Augen der Öffentlichkeit auf dem Balkon eines Gebäudes am Wenzelsplatz erschienen. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt wusste man schon mehr oder weniger, dass es einen Havel gibt, wer das ist und wofür er sich einsetzt. Denn schon am Sonntag, also am 19. November, war das Bürgerforum konstituiert worden, und Václav Havel war einer der bekanntesten Exponenten dieser Bewegung.

November 1989 in Prag
Gsch: Am 22. November bekommt dann das Bürgerforum in der ČTK zum ersten Mal eine eigene Geschichte, eine eigene Überschrift. In der Meldung steht unter anderem:

„Obwohl die Kundmachungen des Bürgerforums an vielen Plätzen in Prag aushängen, gibt es immer noch viele Bürger, denen dieser Begriff unklar ist.“

Gsch: Es wurde also ganz im Sinne eines aufklärenden Journalismus erklärt, was das Bürgerforum eigentlich ist. Aber springen wir noch ein paar Tage weiter, zum 26. November, also zum nächsten Sonntag. Die ČTK schreibt, dass da mehr als eine halbe Million Menschen auf der Letná-Ebene, hoch über der Moldau in Prag, demonstriert haben. Heute glaubt man, dass es vielleicht bis zu einer Million Menschen gewesen sein könnten. In einer Meldung steht:

„Der Dramatiker Václav Havel hat konstatiert, dass der Dialog der Macht mit der Öffentlichkeit begonnen hat.“

Gsch: War diese Demonstration ein definitiver Schlusspunkt, ein klarer Wendepunkt in Richtung Demokratisierung?

JM: Ja. Ich war auf dieser Demonstration, und ich glaube, diese Versammlung war eindeutig die Initialzündung dafür, dass das Geschehen nun wirklich ins Rollen kam. Schon am Freitag dem 24. war die Parteispitze zurückgetreten. Und dann kam diese große Demonstration, auf der auch Regierungschef Adamec sprach. Aber er wurde von der Menschenmasse – man spricht von 800.000 bis einer Million Demonstranten – einfach ausgepfiffen.