„Die Stimmung war aufgeheizt“ – Historiker Wiedemann über wilde Vertreibung und Massaker

Dobronín (Foto: ČTK)

Die tschechische Polizei untersucht derzeit einen historischen Kriminalfall. Es geht um die Frage, ob im Mai 1945 tschechische Revolutionsgardisten deutsche Zivilisten brutal ermordet haben. Ihre Überreste könnten in einem Massengrab nahe Dobronín / Dobrenz bei Jihlava / Iglau liegen. An dem Ort haben Archäologen vor einer Woche auch wirklich Knochen und Gebrauchsgegenstände gefunden, die derzeit untersucht werden. Das mögliche Massaker an deutschen Zivilisten in Dobronín hat jedenfalls nun erneut das Thema Vertreibung in die Medien gebracht. Zum Thema „wilde Vertreibung“ und den Opfern der Vertreibung ein Gespräch mit dem Historiker und ehemaligen Radio-Prag-Redakteur Andreas Wiedemann.

Andreas Wiedemann
Andreas, derzeit wird in Tschechien und in Deutschland über Ausgrabungen in der Nähe des Ortes Dobronín bei Jihlava berichtet. Dort sollen deutsche Zivilisten kurz nach Kriegsende ermordet worden sein. Dieses mögliche Massaker ist nur eines von vielen an Deutschen nach dem Krieg und der Naziherrschaft in der Tschechoslowakei. Als wohl tragischstes Massaker gilt das in Postoloprty / Postelberg im Juni 1945, wo über 700 Menschen ums Leben gekommen sein sollen. Wie viele Massaker an Deutschen soll es denn gegeben haben und über welche ungefähren Gesamtopferzahlen wird dabei gesprochen?

Dobronín  (Foto: ČTK)
„Wie viele Massaker es genau gegeben hat, das wird sich wohl niemals abschließend klären lassen. Es gibt Informationen über zahlreiche Massaker ganz verschiedener Größenordnungen, die unterschiedlich abgelaufen sind und bei denen die Opfergruppen vielleicht etwas unterschiedlich waren. Bekannt ist natürlich Postelberg, bekannt ist auch die Brücke von Ústi nad Labem, also Aussig, der Brünner Todesmarsch ist bekannt, jetzt wird viel über Dobronín gesprochen. Die genaue Zahl wird man jedoch nie erfahren können. Eine jahre- oder jahrzehntelange Diskussion gibt es indes über die Gesamtzahl der sudetendeutschen Vertreibungsopfer. Da wird auf deutscher Seite oder auch auf sudetendeutscher Seite oft die Zahl von 200.000 oder sogar 250.000 Toten genannt. In den letzten Jahren wurde das aber im Bereich der Wissenschaft zwischen Deutschland und Tschechien etwas konkretisiert. So nennt die deutsch-tschechische Historikerkommission in ihren Publikationen 24.000 bis 40.000 Tote, von denen man ausgehen kann. Unter diesen Toten befinden sich natürlich nicht nur die Opfer von Massakern, sondern es sind zum einen Opfer, die in den verschiedenen Lagern umgekommen sind: in Internierungslagern, Arbeitslagern und Abschiebungslagern. Zudem haben wir fast 6000 Sudetendeutsche, die sich selbst das Leben genommen haben. Und es fallen darunter natürlich auch die Opfer von Massakern oder Menschen, die während der wilden Vertreibung umgekommen sind. Aber auch da wird man nie abschließend wissen, wie viele Opfer es dabei genau gegeben hat.“

Warum kommt es eigentlich zu den Massakern, gibt es irgendetwas, das das befeuert hat? Und wie lange geht dieses „Treiben“?

Massenmord an deutschen Zivilisten im nordböhmischen Postoloprty nach dem 2. Weltkrieg
„Natürlich muss man sich die Atmosphäre vorstellen bei Kriegsende nach sechs- beziehungsweise siebenjähriger Besatzung. Und man muss wissen, was die Menschen während der NS-Besatzungszeit erlebt haben: die so genannte Heydrichiade nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich (stellvertretender Reichsprotektor, 1942 gestorben – Anm. d. Red.), das heißt besonders die Zerstörung der Orte Lidice und Ležáky, und tausende Menschen, die in Konzentrationslager verschwunden sind. Diese Stimmung, die bei Kriegsende herrschte, spielte natürlich eine große Rolle. Da hat sich sozusagen auch die Wut Luft gemacht. Aber bei diesen Massakern gibt es ganz verschiedene Fälle. Wir haben nicht nur Mordaktionen, die spontan aus der Bevölkerung und aus einem Gefühl der Rache oder Vergeltung heraus entstanden sind. Sondern wir haben hier auch Fälle gerade wie in Postoloprty, das als geplante Mordaktion gilt. Wir haben also Massaker, an denen Militäreinheiten und Revolutionsgarden beteiligt waren. Über deren persönliche oder genaue Beweggründe kann man nur spekulieren. Das mag dann mit Racheaktionen zusammenhängen, aber auch mit Einschüchterung der deutschen Bevölkerung und dem Ziel Terror zu verbreiten, damit die Deutschen gar nicht mehr im Land bleiben wollen und es freiwillig verlassen. Es gibt aber genauso – und das wissen wir aus den Quellen - Anführer von Revolutionsgarden, die besonders radikal in den Sudetengebieten auftraten, um vielleicht davon abzulenken, dass sie selbst während der Besatzungszeit kollaboriert hatten. Es spielten also verschiedene Aspekte eine Rolle. Und man muss dazu sagen: Die Stimmung war aufgeheizt. Auch die politischen Parteien, die sich nach dem Krieg etablierten, waren sich in der Frage der Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen einig. Grade die Kommunisten und die Nationalen Sozialisten, man nennt sie auch oft Volkssozialisten, die Partei von Edward Beneš, traten dabei besonders hervor. Nur aus der katholisch orientierten Volkspartei gab es einige mäßigende Stimmen. Die zweifelten zwar nicht an der Idee der Aussiedlung, aber sie kritisierten die Gewalttaten.“

Die Massaker, über die wir gesprochen haben, fallen ja in die erste Phase der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei. Für diese Phase hat sich auch der Begriff „wilde Vertreibung“ eingebürgert. Was muss man sich darunter vorstellen? Ist das ein Begriff, den auch die Historiker benutzen?

Aussiedlung Sudetendeutscher
„Das ist auch ein Begriff, den die Historiker benutzen. Darunter stellt man sich vielleicht im ersten Augenblick vor, dass diese Vertreibung völlig unorganisiert und vielleicht auch spontan oder ohne große Strukturen ablief. Das stimmt aber nur zum Teil. Natürlich haben wir Fälle, wo Bewohner deutsche Mitbewohner aus Nachbardörfern direkt über die Grenze gejagt haben. Aber in erster Linie meint wilde Vertreibung, dass es zu dieser Zeit noch keinen Beschluss der Alliierten über die Unterstützung dieses Transfers gab. Die Alliierten haben den Transfer zwar befürwortet, aber man verwies die tschechoslowakische Regierung auch immer darauf, dass man sich bei der Konferenz in Potsdam dann mit den Details befassen wird. Die tschechoslowakische Regierung war auf der anderen Seite bemüht, Tatsachen zu schaffen. Und so wurden in den Sommermonaten hunderttausende Deutsche über die Grenze getrieben. Diese wilde Vertreibung war dabei nicht völlig unorganisiert oder von staatlichen Behörden nicht unterstützt oder gewollt. Wir wissen viel mehr, dass zum Beispiel die Armee-Einheiten einen großen Teil der wilden Vertreibung organisiert haben. Und dass die Parteien und auch die politische Führung darüber natürlich informiert waren. Nachdem dann im Sommer eigentlich angekündigt wurde, dass man diese Vertreibungen erst einmal einstellt, liefen sie aber weiter. In der Phase der wilden Vertreibung bis Ende 1945 haben über 700.000 Deutsche das Land.“

Wenn man von wilder Vertreibung spricht, dann impliziert das eigentlich, dass der Rest der Vertreibung geordnet verlief. Entspricht das der Realität?

Todesmarsch von Brünn  (Quelle: www.katerina-tuckova.cz)
„Wenn wir einerseits von wilder Vertreibung sprechen und dann andererseits von organisierter Aussiedlung, dann ist mit dieser zweiten Phase eigentlich das Jahr 1946 gemeint. Ab Anfang dieses Jahres liefen die Transporte in die amerikanische Besatzungszone, vor allem nach Bayern, und ein paar Monate später auch in die sowjetische Besatzungszone. Man kann durchaus davon reden, dass es eine organisierte Aussiedlung war, weil an den Ankunftsorten Vorbereitungen getroffen waren zur Aufnahme der Vertriebenen, es gab Transportlisten. Man wusste vorher, wie viele Menschen in die Transporte eingereiht werden sollten. Für viele Transporte gibt es auch Namenslisten. Und in dieser Zeit gab es auch keine Toten mehr zu beklagen im Zuge dieser Aussiedlung. Bei den Transporten wurden die Vertriebenen mit Wasser und Lebensmitteln für den Transport ausgestattet. Diese Aussiedlung lief praktisch ja unter den Augen auch der Alliierten ab, die das zuvor in Potsdam abgesegnet hatten. Insofern kann man da schon sagen, dass es in dieser Zeit nicht mehr zu so grauenhaften Vorfällen kam, wie im Zuge der wilden Vertreibung.“