Die Tschechen, die Berge und das Meer
Böhmen liegt nicht am Meer, und die tschechischen Berge sind - seien wir ehrlich - nicht wirklich von eindrucksvoller Höhe. Dennoch scheinen beide Landschaftsformen irgendwie mit dem kollektiven Selbstbewusstsein der Tschechen verknüpft. Wodurch äußert sich das, und warum könnte das so sein? Gerald Schubert hat für sein nun folgendes Feuilleton einige Assoziationen zusammengetragen:
Shakespeare wird im Zusammenhang mit der tschechischen Identität wohl nur selten als Kronzeuge angeführt. Die Tatsache jedoch, dass er sein "Wintermärchen" kurzerhand nach "Böhmen am Meer" verlegt hat, bildet hier eine markante Ausnahme. Vielleicht ist dem Engländer ein Irrtum unterlaufen, vielleicht hat er Europa auch absichtlich verzerrt, um so sein Utopia zu finden. In jedem Fall aber passt die kühne Kontinentalverschiebung gut ins Bild, das man gemeinhin von der tschechischen Identität zu zeichnen liebt. Auch die meisten Schriftsteller, die irgendwann der Aura der goldenen Stadt Prag oder einer wie auch immer gearteten böhmischen Seele nachspürten, haben sich des Phänomens bereits angenommen. Gerne beschreiben sie, wie die Prager Kleinseite bei schönem Wetter vom Geschrei der über der Moldau kreisenden Möwen und den Signalhörnern der auf dem Fluss kreisenden Ausflugsdampfer erfüllt ist. Oder sie erklären, dass Bedrich Smetana die Meeresküste sogar musikalisch näher rücken ließ, weil in der symphonischen Dichtung "Die Moldau" bereits kurz nach Prag das große Finale der Flussmündung ertönt. Ungeachtet der Tatsache, dass dazwischen noch ein paar hundert Kilometer Elbe liegen.
Doch nicht nur die Hinwendung zu den Niederungen des Meeres fällt auf. Denn die meisten Tschechen haben auch eine mindestens ebenso große Sehnsucht nach den lichten Höhen der Berggipfel. Wer in Prag Freunde hat, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit etwa einmal im Monat auf irgendeine "Chata" eingeladen, eine Hütte im Gebirge, die der Freund entweder ohnehin besitzt, oder die von einem Bekanntenkreis meist beachtlichen Umfanges gleich für das ganze Wochenende gemietet wurde.
Ich selbst aber bleibe am Wochenende lieber in Prag. Oder ich fahre nach Wien, meine andere Heimatstadt. Die Rückreise endet dann stets am Sonntag spätabends, etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht, am Prager Hauptbahnhof. Von dort sind es dann noch vier Stationen mit der U-Bahn, und ich bin zu Hause. Wer allerdings meint, dass die früh aufstehenden Prager um diese Zeit längst im Bett sind, der irrt sich gewaltig. Denn der Bahnsteig der Metrostation "Hauptbahnhof" ist dann meist erst so richtig voll. Und in der Regel sind es tatsächlich mehrere Hundert, meist junge Leute mit riesigen Rucksäcken, Schlafsäcken, Abfahrtsskiern, Langlaufskiern, ja Zelten, die sich nach einem Wochenende in den Bergen erschöpft aber glücklich nach Hause begeben.
Historisch bieten sich hierfür zwei Erklärungen an. Erstens: Böhmen lag nie am Meer und ist von Gebirgsketten geradezu umschlossen. Wer würde da nicht gerne nach oben steigen, um in die Welt und bis an die Küste zu blicken? Zweitens: In den Bergen spielten der kommunistische Staatssicherheitsdienst und die ansonsten alltägliche Ideologiepflege stets eine untergeordnete Rolle. Wenigstens für die, die das so wollten.
Die tschechische Regierung jedenfalls, die derzeit eine Kampagne für das EU-Referendum im Juni startet, wäre vielleicht gut beraten, dort recht viel Berg und Meer zu zeigen. Aufbruchsstimmung garantiert.