Die Tschechen und die Politik: Vertrauen ist gut, Achselzucken ist besser?
In politischer Hinsicht lebt die Tschechische Republik seit mehreren Monaten in einem doppelten Provisorium: Erstens ist es nach den Wahlen zum Abgeordnetenhaus Anfang Juni immer noch nicht gelungen, eine stabile Regierung zu bilden. Und zweitens ist Tschechien Mitglied der Europäischen Union, in der nach den negativen Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden hauptsächlich Ratlosigkeit herrscht. Immer häufiger ist von allgemeiner Politikverdrossenheit die Rede, von schrumpfender Wahlbeteiligung, ja sogar von mangelnder Legitimität der politischen Institutionen. Steckt Tschechien in einer politischen Vertrauenskrise?
Im hell erleuchteten Sitzungssaal des Senats, der Oberen Kammer des Tschechischen Parlaments, herrscht konzentrierte Geschäftigkeit. Die Bänke der Senatoren sind gut gefüllt, nur die kleinen Namenstäfelchen auf den Tischen sind an diesem Tag ohne Funktion. Nicht die gewählten Volksvertreter sitzen diesmal hier, sondern Vertreter einer interessierten Fachöffentlichkeit: Wissenschaftler, Journalisten, Diplomaten, interessierte Bürgerinnen und Bürger. Thema der Diskussion: Die Demokratie in Europa. Eine der Organisatorinnen ist Monika Pajerova, die Vorsitzende der tschechischen Bürgerinitiative "Ano pro Evropu", auf Deutsch "Ja zu Europa":
"In ganz Europa interessieren sich die Bürger immer weniger für öffentliche Angelegenheiten, und sie haben immer weniger Lust zu den Wahlen zu gehen - besonders zu Europawahlen. Wir haben uns die Frage gestellt, ob dadurch nicht das Mandat der europäischen Institutionen, insbesondere des Europaparlaments, geschwächt wird. Denn bei den letzten Wahlen zum Europaparlament im Jahr 2004 war die Beteiligung ja wirklich sehr gering."
In der Tat: Nur 28 Prozent der Tschechinnen und Tschechen waren damals, im Juni 2004, zu den Urnen gekommen. Doch Vorsicht: Die angebliche EU-Skepsis der Tschechen hat zwar mit Präsident Vaclav Klaus eine über die Staatsgrenzen hinaus gut hörbare Stimme; dennoch gibt es viele Anzeichen dafür, dass sich hinter dieser Skepsis ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber politischen Autoritäten verbirgt. Monika Pajerova:
"Die Meinungsumfragen in Tschechien zeigen etwas sehr Interessantes: Die Menschen hier haben mehr Vertrauen in die europäischen Institutionen als in die heimischen! Das Abgeordnetenhaus, der Senat, die Regierung - sie alle genießen weniger Vertrauen als die Institutionen der EU. Dennoch herrscht in den öffentlichen Debatten das Gefühl vor, dass die Europäische Union etwas Abstraktes ist, etwas nur schwer Vorstellbares, das weit entfernt ist von den Bürgern. Wahrscheinlich ist der Bereich zwischen den EU-Institutionen, denen die Bürger wie gesagt ganz offensichtlich vertrauen, und den Bürgern selbst noch nicht gut abgesteckt. Mit anderen Worten: Die europäische Bürgergesellschaft ist nicht so gut strukturiert wie die Bürgergesellschaft in den einzelnen Staaten - sei es nun in Österreich, in Frankreich oder eben in Tschechien. Deshalb funktioniert auch die wechselseitige Rückkopplung, also sozusagen der Keilriemen zwischen den europäischen Bürgern und ihren gewählten Vertretern, nicht so gut."Erklärtes Ziel von Menschen wie Monika Pajerova ist es daher, diesen Keilriemen zu stärken, Raum für die Diskussion zu schaffen, um dem prinzipiellen Vertrauen in die Brüsseler Institutionen auch eine solide Basis zu geben.
Für die politische Dimension des Wortes Vertrauen gibt es in Tschechien derzeit jedoch nur wenig Spielraum. "Vertrauen" kommt meist nur im Wort "Vertrauensabstimmung" vor, sowie in der Feststellung, dass die Regierung nicht das Vertrauen des Abgeordnetenhauses genießt. Allgemeines Vertrauen in die Politik hat da hierzulande keine Konjunktur. Im Superwahljahr 2006 wurde der Umgangston zwischen den heimischen Kontrahenten immer schärfer. Das Abgeordnetenhaus, ein Drittel des Senats und die Gemeindevertretungen wurden neu gewählt. Die Auseinandersetzungen waren jeweils harte Richtungswahlkämpfe, getragen von persönlichen Animositäten und Skandalvorwürfen. Monika Pajerova von der Initiative "Ja zu Europa":"Leider blieb die europäische Thematik bei allen diesen Wahlen eher auf der Strecke - wohl deshalb, weil sie sich nur schwer konkretisieren lässt. Genau hier liegen unsere Bemühungen. Wir sind viel in den böhmischen und mährischen Regionen unterwegs, und wir sprechen mit den Menschen darüber, wie sich unsere Mitgliedschaft in der EU konkret auswirkt: auf die Umwelt, auf die Gesundheitsfürsorge, auf die Qualität der Bildung und unserer Universitäten - also auf jene Bereiche, die sich die Menschen tatsächlich vorstellen können. Es liegt aber noch viel Arbeit vor uns. Wenn die Leute zu den Wahlurnen gehen, dann entscheiden sie in erster Linie danach, ob sie einen bestimmten Kandidaten persönlich kennen. Das zweite Kriterium ist die politische Partei. Und erst danach kommen Themen, Inhalte, Programme - und somit auch Europa."
Zu der Veranstaltung im Prager Senat ist auch Vladimir Spidla gekommen, tschechischer EU-Kommissar, verantwortlich für das Ressort Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit. Der passionierte Europäer ist gelernter Historiker, und das merkt man ihm auch an. Immer wieder weist er darauf hin, dass die EU ein einzigartiges, in der Weltgeschichte beispielloses Projekt ist - auf der Suche nach sich selbst und nach Begriffen für sich selbst:
"Wenn etwas originär ist, dann müssen wir zu seiner Beschreibung zunächst noch unsere alten Begriffe verwenden. Das bringt natürlich Probleme in der Kommunikation, die ich aber als ganz natürlich ansehe. Europa ist weder ein Staat noch ein multilateraler Vertrag, sondern etwas wirklich Originäres - und unsere heutigen Begriffe sind dafür nicht geeignet. Nehmen Sie zum Beispiel den Begriff 'Europäisches Parlament': Es gibt zwar ein Europäisches Parlament, aber seine Position ist anders als die der üblichen Parlamente. Die wichtige Rolle des Europäischen Parlaments gut zu beschreiben, das bedarf einer tiefen Diskussion. Es genügt nicht, hier nur oberflächliche Parallelen zu ziehen", meint EU-Kommissar Vladimir Spidla.
Vertrauen braucht Diskussion, Diskussion braucht Begriffe. Dass diese teilweise noch nicht zur Verfügung stehen, ist für Spidla zwar eine Tatsache, spricht jedoch nicht gegen das Projekt Europa an sich: Die Politik eines europäischen Gleichgewichts der Kräfte habe sich nicht bewährt - am Ende hätten stets Krieg, Vertreibung und die Liquidierung von Minderheiten gestanden.Den Tschechen, die fast das gesamte 20. Jahrhundert lang in Fremdbestimmung lebten, sitzt genau diese Erfahrung in den Knochen. Inwiefern sich daraus nun Sehnsucht nach europäischer Integration oder umgekehrt Skepsis gegenüber "denen in Brüssel" ableitet, das wäre Gegenstand hochinteressanter Debatten. Außerhalb der Fachöffentlichkeit, die sich dieser Tage im Senat traf, werden solche Debatten zurzeit aber kaum geführt. Wer will schon über das Vertrauen in die EU philosophieren, wenn die eigene Regierung nicht einmal das Vertrauen des Abgeordnetenhauses hat? Besonders Viele sind es wahrscheinlich nicht.