Vladimír Špidla: Wir müssen europäische Integration abseits der Wirtschaft forcieren

Vladimír Špidla (Foto: Europäische Kommission)

Die Europäische Union wird bei ihrem Gipfel diese Woche erneut nach einem Weg aus der Schuldenkrise suchen. Doch braucht es eher mehr oder vielleicht doch weniger Europa? Während sich die tschechische Regierung für ein Europa der vielen Geschwindigkeiten einsetzt und beispielsweise bei der Fiskalunion nicht mitmacht, gibt es auch andere Stimmen aus Tschechien. Allen voran der frühere tschechische EU-Kommissar und ehemalige sozialdemokratische Premier Vladimír Špidla. Er hat sich gegenüber Radio Prag über das Projekt Europäische Union geäußert.

Vladimír Špidla  (Foto: Europäische Kommission)
Herr Špidla, ganz Europa redet über den Euro und die Probleme, die damit zusammenhängen. Für Sie steht aber nicht der Euro im Mittelpunkt, sondern die europäische Integration. Können Sie das etwas genauer erläutern?

„Für mich ist das nie eine Problematik gewesen, die sich nur um den Euro drehte, auch wenn dieser natürlich als Bestandteil der EU auch zu dem Problem gehört. Und ich habe es schon einmal gesagt und möchte es auch noch einmal betonen: Europa ist ein politisches Projekt, das ist ein Projekt dessen Ziel es ist, Frieden in Europa durch Integration zu schaffen. Und das ist etwas komplett anderes als der Versuch, Frieden durch Gleichgewicht zu schaffen – was in Europa niemals funktionierte. Und natürlich ist der Euro dementsprechend ein logischer Teil des Projektes, denn es ist fast unmöglich, einen Binnenmarkt ohne gemeinsame Währung zu haben. Und, wenn man die relativ kurze Geschichte der Europäischen Union betrachtet, dann sieht man, dass die gemeinsame Währung schon früh in den Gesprächen unter den Politikern präsent war.“

Foto: Sanja Gjenero / Stock.XCHNG
Wie bewerten Sie denn in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass wir die letzten drei bis vier Jahre nur noch über die Krise diskutiert haben? Es begann ja mit der Bankenkrise, die dann zur Wirtschafts- und Finanzkrise umdeklariert wurde, da sprach man über eine weltweite Krise. Jetzt sprechen wir über eine Eurokrise, kann man da nicht sagen, dass Europa da auf einem Irrweg gelandet ist? Oder kann man sagen, dass Europa einen gangbaren Weg sucht, wie es weitergehen könnte?

„Meiner Meinung nach ist das keine Sackgasse sondern ´nur´ eine komplizierte Situation. Und man muss sie lösen, und man wird sie immer lösen, denn die Logik der Integration ist gut und Stark. Und die anderen Möglichkeiten, die natürlich theoretisch existieren, das heißt zum Beispiel eine Rückkehr zum Europa von vor dreißig Jahren, das wäre wirklich ein Alptraum, aber das kommt sicher nicht. Also es ist schwierig, manchmal muss man eben neue Wege finden, das ist klar, manchmal macht man eben Fehler, ebenfalls klar, aber im Allgemeinen, meiner Meinung nach, ist Europa nicht lahmgelegt, sondern geht nach vorne.“

Foto: Europäische Kommission
Was wäre denn für Sie ein Weg, durch den Europa wieder auf festem Boden stehen könnte. Haben Sie da eigene Visionen?

„Natürlich habe ich da gewisse Vorstellungen, aber nicht Visionen. Denn gerade in solchen komplexen Situationen sieht man, dass es diese nicht gibt. Es gab keine Vision für die Vereinigten Staaten oder für China, also das heißt, dass Visionen zu viel gesagt ist – aber Vorstellungen? Ja sicher. Meiner Meinung nach ist das Problem, dass wir eine Integration verschiedener Geschwindigkeiten haben. Und die ökonomische und finanzielle Integration schreiten viel schneller voran als die restlichen Integrationsfelder. Meiner Meinung müssen wir gerade auf der europäischen Ebene die Integration vertiefen, damit wir im Stande sein können, auch die Finanzmärkte meistern zu können. Weil auf der Ebene einzelner Staaten ist dies nicht möglich. Also ich bin definitiv für die Finanzregulierung und die Transaktionssteuer und letztendlich auch dafür, gewisse risikoreiche Derivate einfach zu verbieten. Das ist einfach wie ein Schutz bei der Arbeit – gewisse Materialien benutzt man einfach nicht.“

Foto: Europäische Kommission
Sie waren ja sechs Jahre lang EU-Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit in Brüssel. Sie haben also hinter die Kulissen der europäischen Machtzentrale schauen können. Wo steckt denn ihrer Meinung nach das Potential dieses Europas und wo gibt es noch Schwachstellen zu meistern?

„Meiner Meinung nach sollte man nicht an irgendeinen Superstaat denken. Natürlich, unsere internationalen Partner auf der Erde sind allesamt Superstaaten: China, USA, Indien und Russland, um nur die wichtigsten zu nennen. Und wenn wir nicht die gemeinsame Kapazität haben werden, welche uns die Möglichkeit geben würde, zwar nicht ein Superstaat zu sein, aber als ein Superstaat zu handeln, das wäre sehr unangenehm für uns. Zweitens ist es sehr wichtig, dass wir viel mehr im intellektuellen Bereich machen. Man sieht sehr viele Rankings mit europäischen Universitäten, in denen diese sehr schlecht abschneiden. Aber im Allgemeinen gab es eigentlich keine einzige europäische Identität – es sind nur Universitäten, die sich in Europa befinden! Aber keine hat die Kapazität, um Studierende des gesamten Kontinents an einer Lernstätte zu versammeln und auch kulturell eine Stärke zu haben, die in etwa mit der Harvards zu vergleichen wäre. Natürlich bin ich sehr stolz auf unsere Karlsuniversität, aber auch diese spielt natürlich nur in der Größenordnung von zum Beispiel der Universität in Minnesota. Und das ist natürlich auch unser allgemeines Problem in der modernen Politik, dass die Ökonomie dominiert. Und das ist nicht richtig. Und meiner Meinung nach, das ist natürlich auch das Erbe von Karl Marx und leider Gottes der Sozialdemokraten, müssen wir einen Weg einschlagen, der uns auch auf andere Pfade abseits der Wirtschaft führt.“

Herr Špidla, Sie sind ein glühender Europäer, was würden Sie den Europäern der heutigen Zeit in der immer nur über Krisen und Finanzprobleme gesprochen wird am meisten empfehlen?

„Die Lage ist wirklich schwierig. Aber es gibt ein deutsches Sprichwort das besagt: Nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai. Meiner Meinung nach ist es natürlich schwierig und man muss auch gut reagieren können, aber wir werden uns da gut herausziehen. Und nichts in dieser Situation signalisiert meiner Meinung nach, dass Europa etwas Schlechtes oder Lahmgelegtes wäre. Die Grundgedanken der Europäischen Integration sind vielmehr stark und nicht bedroht.“

Wie sehen sie denn die tschechische Position, ist man hierzulande zu vorsichtig und zu kritisch? Oder ist das verständlich angesichts der geschichtlichen Erfahrungen, die man hier gemacht hat? Oder verblendet das viele Tschechen zu sehr und sie sehen somit die Chance nicht, die sich ihnen hier bietet?

„Meiner Meinung nach ist das natürlich eine Mischung. Für die tschechische Regierung ist nicht ganz klar, was die objektive Position der tschechischen Republik ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Klaus und Co. glauben, wir wären in etwa so was wie Großbritannien und wollen das in der Realpolitik auch so spielen. Aber das ist natürlich mehr als falsch. Wenn man die tschechische Geschichte betrachtet zeigt sich, dass wir immer ein Teil vieler, wenn auch verschiedener Integrationen waren. Die Hauptfragen sind für mich demnach: Was soll unsere Position sein? Welchen Einfluss können wir haben? Und vor allem auch, um welchen Integrationstyp es sich hier handelt. Aber sich zu isolieren funktioniert nicht, denn unsere geographische und politische Lage gibt uns nicht die Möglichkeit, isoliert zu bleiben. Manche wollen es vielleicht, aber es ist unmöglich. Die meiner Meinung nach richtige Strategie für eine Steigerung des tschechischen Einflusses innerhalb der EU wäre, aktiv zu sein, aktiv die Strukturen und die Politik der EU mit zu gestalten. Das wäre richtig, und nicht der Versuch, sich herauszuziehen. Sie können das mit der Geographie von Inseln vergleichen: Helgoland und Rügen sind Deutschland, Madagaskar ist aber was anderes und nicht bloß Afrika. Das heißt, Inseln können nur dann selbstständig sein, wenn sie groß sind oder weit weg liegen. Beides trifft nicht auf uns zu, dementsprechend ist unser Milieu ziemlich wichtig für uns. Dementsprechend können wir uns nicht isolieren.“


Dieser Beitrag wurde am 20. Februar 2012 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.