Die Wende begann mit der Demo vom 17.11.1989 - eine Zeitzeugin berichtet

17. November 1989 in der Prager Nationalstraße

Unser Sonderprogramm ist ganz und gar dem tschechischen Nationalfeiertag gewidmet. Es ist der Tag, an dem heute vor 15 Jahren - am 17. November 1989 - die revolutionären Prozesse in der damaligen, noch von den Kommunisten beherrschten Tschechoslowakei in Gang gekommen sind. An jenem Tag entsprang einer Gedenkveranstaltung zu Ehren des 50 Jahre zuvor bei einer Demonstration tödlich verletzten Studenten Jan Opletal ein riesiger Protestzug, dessen blutige Niederschlagung der Auslöser war für die so genannte Samtene Revolution, die wiederum das Land in Richtung Freiheit und Demokratie führte. Der Demo hatten sich spontan bis zu 50.000 Menschen angeschlossen. Eine davon war die heutige Chefredakteurin der Prager Volkszeitung, Ingrid Pavel, die Lothar Martin zu ihren Erinnerungen über das damalige Ereignis befragt hat.

17. November 1989 in der Prager Nationalstraße
Frau Pavel, heute vor 15 Jahren hat in Prag die damals blutig niedergeschlagene Demonstration junger Studenten stattgefunden, die der Auslöser war für die revolutionären Tage, die danach kamen, und für die politische Wende, die die damalige Tschechoslowakei erfahren hat. Sie sind seinerzeit nur durch einen Zufall zu dieser Aktion gestoßen. Können Sie einmal schildern, wie Sie eigentlich in diese Demonstration hineingeraten sind.

Ingrid Pavel: "Ja, es war am späten Nachmittag, da kam eine Freundin aus meinem tschechischen Freundeskreis zu mir in die Wohnung gelaufen - ich wohne in einer Parallelstraße zum Moldauufer -, und sie rief: ´Komm, schnell, zieh dich an, hier ist was los, hier ist die Demonstration.´ Also warf ich mir den Mantel über, Handschuhe, Mütze, und ab ging es. In ein paar Minuten waren wir an der Moldau, wo eine riesige Menschenmenge in wirklich guter Stimmung vorbeizog. Wir schlossen uns ihr an, die Menge bewegte sich in Richtung Nationaltheater. Unterwegs hielten die Straßenbahnen, die Leute strömten raus, und viele von ihnen schlossen sich diesem Zug an. Hinterher habe ich erfahren, dass es in etwa 50.000 Menschen waren."

Also war das so eine Bewegung, die sich spontan entwickelt hat, denn eigentlich konnte ja eine solche Demonstration seinerzeit nicht angemeldet werden, weil die damaligen Machthaber so etwas von Anfang an unterbunden hätten.

Ingrid Pavel: "Ich glaube, da war jeder überrascht, und jeder fragte sich, wie er den Mut gefunden hat, sich diesem Zug anzuschließen. Aber diese Kraft, die von diesen überwiegend jungen Leuten ausging, die war wahrscheinlich so groß, und die Leute fühlten sich irgendwie so angesprochen und so sicher, dass sie sich sagten, ich kann da einfach nicht zurückstehen."

Was haben denn die jungen Leute, die diesen Demonstrationszug angeführt haben, gerufen? Oder hatten sie Transparente dabei, dass jeder wusste, um was es hier ging?

Ingrid Pavel: "Sie hatten Transparente, sie trugen Kerzen in den Händen. Wir gingen zum Beispiel an der DDR-Botschaft vorbei, also dem Gebäude, in dem sich heute das Goethe-Institut befindet. Jeder hatte ja die Ereignisse in der damaligen DDR verfolgt, und als wir hier vorbeizogen, da riefen alle: ´Prag grüßt Berlin!´ Dabei fühlten sich alle auch ein bisschen bestätigt, denn es war ja auch in den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks einiges los, und daher musste auch hier einfach irgendetwas geschehen. Dann ging es weiter zum Nationaltheater, wo bereits die Schauspieler warteten, die ja damals auch eine große Rolle gespielt haben. Besonders der damals schon alte und heute bereits nicht mehr lebende Schauspieler Josef Kemr. Er war durch seine unbeugsame Haltung bekannt und hat eine große Achtung genossen. Deshalb riefen auch hier die Leute laut: ´Wir grüßen die Schauspieler´. Also, es wurden schon Losungen gerufen."

17. November 1989,  Foto: CTK
Auf die Frage, wie sich seinerzeit der negative Höhepunkt der Demonstration, also der Knüppeleinsatz der von der kommunistischen Regierung zur Nationalstraße abkommandierten Polizei-Sondereinheit abgespielt habe, ließ Ingrid Pavel in allen Einzelheiten ihre damaligen Begebenheiten, Eindrücke und auch Ängste Revue passieren. Sie beschriebt zum Beispiel, dass der Demonstrationszug willkürlich in die Nationalstraße umgeleitet worden war, dass man den "Kopf des Zuges" sozusagen von seinem "Körper" trennte, indem man die ersten rund 2000 Demonstranten noch in diese Straße hineinließ, diese dann aber von vorn und hinten mit Polizeikräften abriegelte. Die "weiße Wand" der mit weißen Helmen, Schutzschildern und Gummiknüppeln ausgerüsteten Polizeieinheit sei vom Innenministerium gewesen, sagte Ingrid Pavel. Während man in der Kälte des 17. Novembers 1989 nun von Polizeikräften umzingelt gewesen sei, habe eine ältere Frau, die ein kleines Radio bei sich trug, gesagt, man solle keine Angst haben, denn man wisse von der Demonstration. Sie habe nämlich den Sender Freies Europa gehört, so Pavel, bei dem ganz aktuell über die Ereignisse in Prag und auf der Nationalstraße berichtet wurde. Während ihrer bedrohlichen Situation, in die sie geraten waren, hätten auch einige Leute gewarnt, sich nicht provozieren zu lassen, da sich unter die Demonstranten auch einige StB-Leute (die StB war die damalige tschechoslowakische Staatssicherheit, Anm. d. Autors) befanden, die Schlägereien provozieren und die Demo dadurch eskalieren lassen wollten, sagte Pavel. Das sollte zwar verhindert werden, dennoch begannen die Polizisten dann doch auf die Leute einzuprügeln, die am lautesten gefordert hatten, hier weg zu wollen oder aber die irgendwelche Parolen riefen. In dem nun beginnenden Gemenge sei sie auf ein Auto gedrängt worden und hätte allmählich Angst um ihr Leben gehabt, beschrieb Ingrid Pavel den Fortgang der nun eskalierenden Situation, in der die Polizisten immer wahlloser auf die Demonstranten einschlugen, Hundegebell ebenso wie die Schreie der verprügelten Menschen zu hören waren. Mit viel Glück und Geschick habe sie sich aus der Umklammerung der Polizei befreien und zum "rettenden" Moldauufer ausbrechen können, ergänzte Ingrid Pavel ihre Erinnerungen an die brutale Niederschlagung der friedlichen Demonstration vom 17. November 1989 in der Prager Nationalstraße.

17. November 1989,  Foto: CTK

Wenn Sie das heute so im Nachhinein betrachten, fühlen sie sich vielleicht als kleine Heldin, als kleine Revolutionärin, nur weil Sie dabei waren?

Ingrid Pavel: "Nun, das auf keinen Fall. Andererseits, wenn ich darüber nachdenke: Ich war damals 1968 zufällig hier, als die Russen einmarschiert sind, und ich war am 17. November 1989 dabei. Also, im Nachhinein muss ich schon sagen, ich bin froh, dabei gewesen zu sein, denn es ist doch schließlich ein Stück Geschichte."

Wenn man das heute alles so betrachtet, 15 Jahre danach, würden Sie dann sagen, dass sich dieser Einsatz gelohnt hat? Hat das Land solch eine Entwicklung genommen, wie man sie sich schon damals hat vorstellen können?

"Ja, es hat sich gelohnt, auf jeden Fall, da gibt es überhaupt gar keinen Zweifel. Man vergisst die Sachen, die sich zum Guten gewendet haben. Man sollte sich das deshalb öfter mal in Erinnerung rufen. Das, was man heute als selbstverständlich ansieht, das war damals überhaupt nicht selbstverständlich. Man kann heute frei reden, man kann frei reisen. Es sind viele Sachen nicht so gelaufen, wie man sie sich in seinen naiven Träumen manchmal auch erträumt hat. Aber das ist ganz selbstverständlich, das ist der Lauf der Dinge, und es muss noch sehr viel getan werden, um das zu erreichen, wovon wir damals und das ganze Land geträumt haben."