Dirigent Bělohlávek: „Der Weg ist unendlich lang, aber auch unendlich schön.“
Ein doppeltes Jubiläum feiert in diesem Jahr der renommierte tschechische Dirigent Jiří Bělohlávek. Der Verfechter der böhmischen Musiktradition wird an diesem Mittwoch 70 Jahre alt. Die Tschechische Philharmonie, die er als Chefdirigent und Künstlerischer Direktor leitet, hat zudem im Januar ihren 120. Geburtstag begangen. Zu diesem Anlass war Jiří Bělohlávek kürzlich beim Tschechischen Rundfunk zu Gast.
„Ich werde Ihnen keine genaue Zahl sagen. Ich nähere mich aber dem Moment, von dem mal mein Freund und Mentor, der leider schon verstorbene Pianist Ivan Moravec, gesprochen hat: Die Interpretation eines Werkes beginne, wenn man es 200 Mal gespielt habe, pflegte er zu sagen. Ich denke, an diese Zahl reiche ich mittlerweile heran.“
Jiří Bělohlávek dirigierte das wichtigste tschechische Orchester bereits in den Jahren 1990 bis 1992. Zwanzig Jahre später, bereits mit internationaler Erfahrung vor allem beim BBC Symphony Orchestra gewappnet, kehrte er an die Tschechische Philharmonie zurück.„Ich kam zur Tschechischen Philharmonie mit meinen Plänen und mit einer festen Überzeugung, dass wir meine Vision realisieren werden. Ich war mir aber dessen bewusst, dass dies ziemlich lange dauern würde. Die Realität hat mich überrascht und meine Erwartungen übertroffen. Die harmonische Kooperation mit dem Orchester ist für mich ein großes Vergnügen. Ich freue mich auf jedes weitere Projekt. Und ich sehe, dass auch die Mitglieder des Orchesters dies so erleben und große Freude daran haben. Ich würde dies als wichtigstes Ergebnis meiner Zusammenarbeit mit der Philharmonie bezeichnen, weil dies bedeutet, dass Raum für freie schöpferische Arbeit entsteht.“
„Wir sind heute imstande, sehr intensiv und sehr schnell zu proben.“
Mit seiner Übernahme des Taktstocks habe sich auch die Arbeitsweise des Orchesters gewandelt, glaubt Bělohlávek:
„Wir sind heute imstande, sehr intensiv und sehr schnell zu proben. Dies ist für die Philharmoniker neu, wir haben drei Konzerte pro Woche eingeführt. Damit wurde die Zeit für Proben um einen ganzen Tag verkürzt. Uns bleiben dann zwei Tage, um das Programm vorzubereiten. Für die Musiker bedeutet das zugleich, dass sie ihre eigenen Übungen intensivieren mussten. Es fällt weg, womit wir uns früher in der gemeinsamen Probe beschäftigt haben, also das Lesen und die technische Bewältigung der Noten. Wir arbeiten ab dem ersten Moment der Probe am Ausdruck, an der Tonqualität und am Stil – es ist von Beginn an eine schöpferische Arbeit.“
Jiří Bělohlávek gilt als ein Verfechter der tschechischen Musik. Er hat zahlreichen Werken tschechischer Komponisten wie Dvořák, Janáček, Suk und Martinů zu einem breiteren Publikum verholfen, sowohl mit ausländischen Orchestern als auch an der Spitze der Tschechischen Philharmonie:„Das ist sozusagen ein Stigma, das nicht nur tschechische Dirigenten, sondern auch die Tschechische Philharmonie begleitet. Sie gilt mit Recht als Bewahrerin der großen Tradition tschechischer Musik. Man muss daran aber ständig arbeiten, weil man von der Tradition leicht in die Routine abrutschen kann. Und das wollen wir in keinem Fall. Eigentlich ist es aber gar nicht so schwierig, weil die Musik an sich viel Inspiration und viele Möglichkeiten für neue Betrachtungen bietet. Es genügt, einfach mit Ernsthaftigkeit zu arbeiten, mit dem Ziel, das Vermächtnis immer besser zu begreifen, das die Komponisten in ihren Partituren hinterlassen haben. Es ist eine ständige Goldgräberei. Man findet dabei immer wieder neue Anregungen.“
„Meine Liebe zu Bohuslav Martinů ist allgemein bekannt.“
Bělohláveks Leidenschaft gilt vor allem einem Komponisten: Bohuslav Martinů. Mit dem BBC Symphony Orchestra nahm er 2009 alle sechs Symphonien des Komponisten auf. In Martinůs Werk finde er geistreiches Musizieren genauso wie speziell tschechische Elemente, sagt Bělohlávek.
„Meine Liebe zu Bohuslav Martinů ist allgemein bekannt. Ich bin ihm schon begegnet, als wir im Kühn-Kinderchor die Premiere seiner Kantate ‚Das Maifest der Brünnlein‘ einstudiert haben. Dieses Erlebnis hat mein Interesse für Martinů geweckt. Fortgesetzt hat sich das, als ich als Cellist am Konservatorium seine Sonaten spielte. Und davon hat sich ganz logisch mein Interesse für Partituren größerer Kompositionen, bis zu den Symphonien, abgeleitet. Auch seine Opern sind sehr reizvoll, sehr interessant. Seine Juliette zum Beispiel ist ein Kleinod der Opernliteratur, das bei uns nicht ausreichend geschätzt und selten gespielt wird.“
Martinů sei aber nicht der einzige Komponist, der im Ausland mehr Anerkennung finde als in Tschechien. Dies gelte auch für Leoš Janáček:„Das ist eine Sache, die ich überhaupt nicht verstehe. Eine Erklärung könnte sein, dass die musikalische Ausbildung bei uns in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen ist. Die Menschen sind nicht genug motiviert, diese Werke kennenzulernen. Janáček ist ein Beispiel, das niemanden in Ruhe lässt. Ich kenne Menschen, die ihn strikt ablehnen, aber natürlich kenne ich wesentlich mehr Menschen, die ihn leidenschaftlich lieben. Ich denke, eine halbherzige Beziehung zu Janáček ist nicht möglich. Sein Opernwerk ist heute ein Fixstern in allen großen Opernhäusern, es ist ein sicherer dramaturgischer Treffer. Aber ich erinnere mich an die Zeit meiner Kontakte mit dem Nationaltheater in Prag: Immer wenn wir über eine Janáček-Premiere gesprochen haben, begrüßte die Theaterleitung dies als eine dramaturgische Leistung, gleichzeitig zeigte sie sich aber betrübt, weil sie einen Misserfolg bei den Besucherzahlen erwartete. Dies halte ich für einen Makel an der tschechischen Kultur.“
„Ich habe das Glück gehabt, mit hervorragenden, begabten jungen Menschen zu arbeiten.“
Neben seiner Arbeit mit den Orchestern ist Bělohlávek zudem als Professor an der Prager Akademie der Musischen Künste tätig. Junge talentierte Dirigenten wie Tomáš Hanus, Jakub Hrůša und Tomáš Netopil sind seine berühmtesten Schüler:
„Ich habe das Glück gehabt, mit hervorragenden, begabten jungen Menschen zu arbeiten. Um Dirigent zu werden, braucht man zweifelsohne zahlreiche Voraussetzungen: Talent, entsprechendes Gehör, gewisse Kommunikationsfähigkeiten. Aber alles ist auch eine Sache des Trainings, der Schulung und des Fleißes. All die Begabung, all die Phantasie und all die Voraussetzungen bringen ohne harte Arbeit und ohne großen Willen keine Früchte. Und natürlich gehört auch ein Stück persönliches Glück dazu: Der Adept muss im richtigen Moment eine Aufgabe bekommen, an der er weiter wachsen kann.“
Und wann und wie kam Jiří Bělohlávek selbst auf die Idee, Dirigent zu werden?„Ich habe bereits als sehr kleines Kind Freude an Musik gehabt. Mein Vater war Jurist, aber auch ein guter Pianist. Er war ein leidenschaftlicher Musiker und spielte täglich zu Hause. Ich bin praktisch jeden Abend beim Klavierspiel eingeschlafen. Schon damals fühlte ich mich wohl dabei. Und die Idee, Dirigent zu werden, kam wahrscheinlich, als ich als Mitglied des Kühn-Kinderchors an Opernvorstellungen im Nationaltheater teilgenommen habe. Damals lernte ich die Welt des Orchesters kennen und der Oper. Ich war davon völlig hingerissen und sehnte mich danach, ein Teil dessen zu werden. Und selbstverständlich will jeder Junge General sein, und dort war der Dirigent der General. Das war also die Grundlage. Und dann begann ich, zielbewusst daran zu arbeiten.“
„Der Weg zur Vervollkommnung, zu einem besseren Verständnis musikalischer Werke, zu einem besseren Erleben und dadurch auch zu einer besseren Vermittlung für die Hörer, hört nie auf.“
Die zielbewusste Arbeit begleitet ihn aber bis heute:
„Der Weg zur Vervollkommnung, zu einem besseren Verständnis musikalischer Werke, zu einem besseren Erleben und dadurch auch zu einer besseren Vermittlung für die Hörer, hört nie auf. Denn wenn man eine Stufe erreicht hat, öffnet sich eine unendliche Reihe weiterer Möglichkeiten, um daran anzuknüpfen. Der Weg ist unendlich lang, aber auch unendlich schön.“