Ein augenzwinkernder Kafka: Die „Briefe an Ottla“ werden versteigert
Kafka-Forscher bangen und hoffen. Am 19. April werden die Briefe des Prager Schriftstellers an seine Schwester Ottla in Berlin versteigert. Das höchste Gebot wird dann über den weiteren Verbleib der Originalhandschriften entscheiden, deren Schätzwert bei 500.000 Euro liegt. Wenn die Briefe in Privathand gelangen, so fürchten Literaturwissenschaftler, könnten sie für die Forschung verloren gehen. Was aber macht diese Handschriften so interessant? Was steht in den Briefen und wer war eigentlich die Empfängerin?
„Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel.“
Diese Zeilen schrieb Franz Kafka am 10. Juli 1914 in einem Brief an seine Schwester Ottla. Es sind Zeilen, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, die aber dennoch nach dem Tod des Verfassers publiziert wurden – wie auch andere Briefe Kafkas. Markéta Mališová, Direktorin der Prager Kafka-Gesellschaft, erklärt, warum die persönliche Korrespondenz des Autors auch heute noch gelesen wird:
„Ich denke, das war so etwas wie seine Schreibübungen. Er hat einen Brief nicht einfach so geschrieben. Das merkt man, wenn man diese Briefe liest – am Satzbau, am Ausdruck, an der Dichte der Gedanken. Für mich sind die Briefe genauso wertvoll wie die Romane, ja sogar noch wertvoller, weil Kafka darin humorvoll, witzig ist. Das ist ein anderer Blick auf Kafka. Das ist nicht der verschlossene, existentialistische Autor, der sich mit der Existenz und dem Wesen des Menschen beschäftigt. Kafka lebt in diesen Briefen.“
Insgesamt hat Franz Kafka über 1700 Briefe und Postkarten an seine Weggefährten geschickt. Ein großer Teil davon ist erhalten und editiert – der Inhalt ist also den Kafka-Forschern bekannt. Dies gilt auch für die 45 Briefe, 32 Postkarten und 34 Bildpostkarten an Ottla. Sie wurden 1974 von Hartmut Binder und Klaus Wagenbach herausgegeben und sind auch in die Kritische Ausgabe von Schriften, Tagebüchern und Briefen Franz Kafkas eingegangen. Dennoch seien die Originale für die Forschung auch heute noch von Interesse, erklärt Ulrich von Bülow, Leiter der Handschriftenabteilung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.
„Man kann eigentlich sagen, dass eine Handschrift immer mehr enthält als der Druck. Man kann aus den Schriftzügen, aus der Verteilung der Schrift auf dem Blatt, aus der Art des Papiers und aus vielen anderen Begleitumständen noch ganz andere Rückschlüsse ziehen, als man es nur auf der Grundlage des puren Textes tun könnte.“Die Briefe und Postkarten an Ottla stammen aus der Zeit zwischen September 1909 und Januar 1924. Abgeschickt wurden sie unter anderem in Prag, Meran und Berlin. Bis 1970 wurden sie von Ottlas Töchtern Věra und Helene in Prag aufbewahrt. Auf Vermittlung eines Kafka-Forschers wurden sie dann nach Oxford gebracht, wo sie bis November 2010 als Leihgabe in der Universitätsbibliothek lagen. Innerhalb der Korrespondenz Kafkas würden die Briefe an Ottla eine Sonderstellung einnehmen, sagt von Bülow.
„Bekannt sind ja vor allem die Briefe von Kafka an Frauen, an Geliebte wie Hedwig Weiler, Grete Bloch, Felice Bauer oder Milena. Das sind Liebesbriefe mit allen dazugehörigen stilistischen Eigenarten. Außerdem gibt es Brieffolgen an Max Brod und andere Persönlichkeiten des Literaturbetriebs. Da geht es mehr um literarische, geschäftliche, manchmal auch philosophische Fragen.“
Ottla aber war Kafkas vielleicht engste Vertraute. Mit ihr teilte er seine Sorgen, mit ihr konnte er aber auch ganz Alltägliches besprechen.
„Es wird Dich doch liebe Ottla interessieren, daß ich in dem Hotel zum Roß auf der andern Seite einen Kalbsbraten mit Kartoffeln und Preiselbeeren, hierauf eine Omelette gegessen und dazu und hierauf eine kleine Flasche Apfelwein getrunken habe. Unterdessen habe ich mit dem vielen Fleisch, das ich bekanntlich nicht zerkauen kann, teilweise eine Katze gefüttert, teilweise nur den Boden verschweinert.“
Das berichtet Kafka am 25.11.1911 aus Kratzau / Chrastava. Von Bülow beschreibt den Charakter der Briefe an Ottlla so:„Das sind weder Liebesbriefe noch Geschäftsbriefe, sondern es sind Briefe eines großen Bruders an seine kleine Schwester.“
Das gilt auch für eine Postkarte, die Franz – sicherlich mit einem Augenzwinkern - im September 1909 vom Gardasee absendet:
„Liebste Ottla, arbeite bitte fleißig im Geschäft, damit ich ohne Sorgen es mir hier gut gehen lassen kann und grüße die lieben Eltern von mir. Dein Franz.“
Wer aber war diejenige, die Franz Kafka hier auffordert, fleißig zu arbeiten? Ottilie Kafka, genannt Ottla, war die jüngste Schwester des Schriftstellers. Sie wurde am 29. Oktober 1892 in Prag geboren – neun Jahre nach ihrem Bruder Franz, als dessen Lieblingsschwester sie oft bezeichnet wird. Dazu Markéta Mališová:„Ottla war diejenige in der Familie, die ihm am nächsten war, neben seiner Mutter. Zu Ottla hatte er die engste Beziehung. Ihr hat er auch seine Bibliothek vermacht, und all seine persönlichen Dinge.“
Franz Kafkas Verhältnis zu Ottla wird in einem Brief deutlich, den er ihr am 8. Oktober 1923 aus Berlin schreibt. Darin heißt es:
„Ob Du mich stören würdest, darüber müssen wir nicht sprechen. Wenn mich alles in der Welt stören würde – fast ist es so weit –, Du nicht.“Warum er gerade zur jüngsten seiner drei Schwestern eine so enge Beziehung hatte, erklärt die Direktorin der Kafka-Gesellschaft:
„Er hat sie so sehr bewundert. Sie hat es geschafft, sich gegen den Vater aufzulehnen – was ihm selbst nicht gelungen ist. Ottla war für Franz Kafka das Muster einer Frau, die ihren Weg gegangen ist und dabei in allem eine sehr ausgeglichene Person war. Sie war offen, aber auch ruhig, sie war mutig, aber auch besonnen. Einmal hat er ihr sogar geschrieben, dass er sie heiraten würde, dass er mit ihr leben könnte. Das war natürlich eine Übertreibung. Aber sie war der Typ von Frau, den er bewunderte.“
ttla aber heiratet 1920 den tschechischen Anwalt Josef David. Sie bringt zwei Töchter zur Welt. Nach der Okkupation durch die Nationalsozialisten wird Ottla nach Theresienstadt deportiert. Dort kümmerte sie sich um eine Gruppe jüdischer Kinder aus Polen, die sie 1943 freiwillig ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau begleitet. Zusammen mit ihnen wird sie kurze Zeit später ermordet. Auch wegen Ottlas eigener Geschichte wünscht sich die Prager Kafka-Gesellschaft deshalb, dass die Briefe an Ottla nach Prag zurückkehren. Die Kafka-Gesellschaft kann die Mittel dazu aber nicht aufbringen und hofft deshalb auf finanzielle Unterstützung. So auch das deutsche Literaturarchiv in Marbach. Dort hätten sich bereits interessierte Spender gemeldet, sagt Bülow. Die Briefe wären seiner Meinung nach in Marbach in einem guten Kontext:
„Wir haben auch das Manuskript des Prozesses oder die Brieffolgen von Kafka an Milena oder an Hedwig Weiler oder auch andere Manuskripte und Briefe. Sogar einen kleinen Teilnachlass von Kafka konnten wir einmal aus Paris erwerben. Nicht nur die Handschriften und Briefe sind hier schon in großer Zahl versammelt, sondern es gibt auch eine sehr große Sammlung von Druckwerken, alle möglichen Ausgaben von Kafka in verschiedenen Sprachen und die schier unübersehbare Sekundärliteratur sind hier bereits versammelt.“Und was sagt die Direktorin der Prager Kafka-Gesellschaft dazu?
„Für mich ist Marbach keine Konkurrenz. Im Gegenteil: Ich bin froh, dass es so einen Ort gibt, an dem Handschriften der Prager deutschen Literatur gesammelt sind. Das ist aus der Sicht der Forschung natürlich gut. Die Dokumente sind dort zugänglicher als in einer privaten Sammlung. Marbach ist eine hervorragende Einrichtung. Wenn wir schon kein Geld dafür haben, dann sollen die Briefe in Gottes Namen wenigstens in Marbach sein. Aber natürlich wäre es mir lieber, wenn sie hierher zurückkommen würden.“Konkrete Pläne für den Fall, dass die Briefe doch nach Tschechien kommen würden, hat Mališová nicht – dafür aber einige Gründe, weshalb sie die Briefe gerne in Prag sehen würde.
„Obwohl er ein Autor war, der auf Deutsch geschrieben hat, ist er hier in Prag geboren und das, was sein Leben am meisten geprägt hat, war Prag.“
Worauf von Bülow kontert:„Also ich bin nicht der Meinung, dass man solche Fragen nach Nationalitäten oder nach Staaten entscheiden kann. Kafka ist ein Autor der Weltliteratur. Er wird überall auf der Welt gelesen und erforscht. Es geht darum, möglichst gute Bedingungen für die Forschungen zu schaffen, damit diese Briefe auch benutzt werden können.“
Die endlose Diskussion darüber, wem Kafka nun eigentlich gehört, ist bis heute nicht entschieden – und sie wird auch nicht entscheidend sein, wenn die Briefe an Ottla am 19. April in Berlin versteigert werden. Dann geht es allein darum, wer am längsten mitbieten kann.