„Ein Vierteljahrhundert stand der Konsum im Vordergrund“ – Politologe Schuster über neue Lust an Geschichte in Tschechien
Die Heiligen Kyrill und Method am Donnerstag und einen Tag später Jan Hus am Freitag sind in Tschechien Feiertage. In den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass die Politiker nicht nur diese beiden Feiertage, sondern generell alle historisch wichtigen Jubiläen für sich neu entdecken und darin einen Anlass sehen, sich in Grundsatzreden an die breite Öffentlichkeit zu wenden. Das Interesse der Menschen ist ihnen dann nämlich sicher. Die Bereitschaft der Politiker, bei solchen Anlässen vor die Mikrophone und Kameras zu treten, hat aber in einigen Fällen auch für Kritik gesorgt. Es wird ihnen vorgeworfen, den betreffenden Jahrestag für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Mehr über diese Problematik im Interview mit unserem Mitarbeiter, dem Politikwissenschaftler Robert Schuster.
Gerade der Fall von Lidice und Ležáky hängt nicht nur damit zusammen, dass es ein rundes Jubiläum gewesen ist, also der 70. Jahrestag der Auslöschung dieser beiden Orte und auch des Attentats auf Reinhard Heydrich. Ich denke, das ist ganz einfach ein natürlicher Prozess. Fast ein Vierteljahrhundert hat man in der tschechischen Gesellschaft praktisch alle historischen Sachen beiseite gelassen, der Konsum stand im Vordergrund. Die Gesellschaft war auf Erfolg getrimmt und wollte sich mit diesem historischen Ballast nicht abgeben. Nach einem Vierteljahrhundert hat man erkannt, dass das nicht reicht, dass die Gesellschaft auf ihre Wurzeln achten muss und weiß, wohin die Reise gehen soll. Dieser neue Historizismus, der sich hier anbahnt, hängt mit diesem Suchen zusammen: die Vertreter der Gesellschaft, also die Politiker, versuchen der Gesellschaft eine gewisse Richtung zu geben. Man muss natürlich unterscheiden: es gibt historische Gedenktage wie z.B: Lidice und Ležáky, bei denen man von Seiten der Politik relativ wenig hineininterpretieren kann. Da gibt es Fakten, die bekannt sind, da kann man nur sehr wenig verändern. Anders ist es bei Jahrestagen oder Jubiläen mit religiösem Unterton. In erster Linie wären das z.B. der Jahrestag des heiligen Wenzel oder aller anderen wichtigen Landespatrone. Da öffnet sich für die Politik schon eine Möglichkeit diese Jahrestage zu instrumentalisieren.
In der vergangenen Woche wurde der Feiertag der heiligen Kyrill und Method begangen. Im nächsten Jahr wird es sich zum 1150-mal jähren, dass die beiden Slawen-Apostel ins Großmährische Reich gekommen sind. Steht uns also wieder ein Groß-Ereignis bevor, bei dem die Politiker versuchen werden, sich in Szene zu setzen?Auf jeden Fall. Es hängt damit zusammen, das Papst Benedikt der XVI. aus diesem Anlass nach Tschechien kommen wird und praktisch die Schirmherrschaft über diese Feierlichkeit übernehmen wird. Die tschechische Regierung hat bereits auf ihrer Internetseite einen Link zu diesem Jubiläum. Es wird also nicht nur als ein religiöses Fest angesehen sondern auch als ein Tag, an dem der Staat mitreden möchte. In der Kommission, die diese Feierlichkeiten vorbereitet, sitzen paritätisch Vertreter der Kirchen (auch der orthodoxen Kirche) aber auch Vertreter des Staates. Dort spielen zum Beispiel der Präsident oder der Vizepräsident des Senats eine sehr wichtige Rolle. Hier ist zu erkennen, dass der Staat dieses Jubiläum als Anlass nehmen möchte zu zeigen, dass die tschechische Republik nicht nur ein Ergebnis von Zufällen ist und dass die Wurzeln des Staates und der Gesellschaft weitaus tiefer liegen, dass sie eben bis in das frühe Mittelalter reichen, wodurch man etwas hat, worauf man später anknüpfen kann. Ein anderer Feiertag ist der von Jan Hus. Er wird speziell von den Protestanten als ihr Feiertag angesehen. Es ist interessant, dass die Kommunisten schon vor der Wende 1989 versucht haben, diesen Feiertag zu instrumentalisieren. Dieses moralische Image das Hus hat, also ein Saubermann, der gegen die Autoritäten kämpft, in diesem Fall den Papst, das haben die Kommunisten massiv versucht zu instrumentalisieren. Das ist ihnen auch teilweise gelungen, ich denke dass dieser Feiertag in der Bevölkerung sicherlich sympathischer wahrgenommen wird als Kyrill und Method. Das zeigt, wie einfach es eben ist, diese religiöse Feiertage zu instrumentalisieren.
Ist diese Wiederentdeckung von historisch relevanten Jahrestagen ein tschechisches Spezifikum, oder findet sich so etwas auch in anderen Ländern Mitteleuropas?Das ist etwas, was für die ganze Region Mitteleuropas zutrifft. Schauen wir nach Ungarn, dort ist dieser Historizismus fast schon institutionalisiert worden in der Verfassung. Das führt zu großer Kritik, weil die negativen Aspekte der ungarischen Geschichte weggewischt werden oder so getan wird, als ob es das nie gegeben hätte. In der Slowakei war das vor Jahren, als es eine linksnationalistische Regierung gegeben hat, auch relativ massiv. Zum damaligen Jubiläum des slowakischen Volkshelden Juraj Jánošík hat der damalige und heutige Ministerpräsident Robert Fico, ein Sozialdemokrat, ihn in aller Öffentlichkeit als „ersten slowakischen Sozialdemokraten“ bezeichnet. Das zeigt, wie massiv scheinbar Nachfrage nach historischen Jubiläen besteht, um diese dann in einen gesellschaftspolitischen Kontext zu setzen.
Wie reagieren den die Angesprochenen, also die Bevölkerung auf diesen historischen „Overkill“? Es gab beispielsweise zum Jahrestag des Attentats auf Heydrich jede Menge Aktionen und auch Fernsehsendungen. In Deutschland gibt es ja den Täter-Komplex, die Menschen fordern oft, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Wie ist es in Tschechien?Man hat in Tschechien eben versucht, einen solchen Schlussstrich zu ziehen. Nicht nur zur kommunistischen Vergangenheit sondern auch zur Protektoratszeit, aber man hat ganz einfach gemerkt, dass das nicht geht. Wenn ein historisches Kapitel nicht aufgearbeitet wird, wie z.B. die Protektoratszeit, kommt das früher oder später zurück und oft auch in negativen Erscheinungen. Gerade was das Thema „Protektorat“ angeht und den tschechischen Widerstand gegen die Nazis: Daran haben die tschechischen Historiker in den letzten Jahren massiv gearbeitet, um dieses Geschichtskapitel zu entrümpeln und in einem objektiven Licht darzustellen. Ich denke, das zeigt erste Früchte. Es ist natürlich so, dass dieses Interesse der Öffentlichkeit ja nicht von oben angeordnet wird. Es ist nicht so, dass in der Schule angeordnet wird: „Ihr müsst jetzt nach Lidice oder nach Ležáky fahren“. Da gibt es schon sehr viel Spontaneität in der Bevölkerung. Das zeigt, dass die Menschen Interesse hat an diesen Ereignissen und historischen Jubiläen und das ist natürlich etwas Positives.