„Eine Art Nachfolger von Schwejk“ - Jiří Pehe über das Phänomen Jára Cimrman

Jára Cimrman

Jára Cimrman – dieser Name steht in Tschechien weit mehr als für das fiktive Universalgenie, das das Autorenduo Zdeněk Svěrák und Ladislav Smoljak 1966 erfunden hat. Cimrman ist eine Lebenshaltung, ist Kult. Mehr als 40 Jahre spielten Svěrák und Smoljak mit ihrem Team vor ständig ausverkauftem Haus. Als Ladislav Smoljak am 6. Juni starb, zeigte sich neben unzähligen Cimrman-Fans auch nahezu die gesamte intellektuelle Elite Tschechiens betroffen. Über das Phänomen Cimrman und darüber, was es über die tschechische Gesellschaft verrät, hat sich Silja Schultheis mit dem Politologen Jiří Pehe unterhalten. Jiří Pehe ist Direktor der New York University in Prag, Dozent an der Prager Karlsuniversität und politischer Kommentator. Während des Kommunismus lebte er mehrere Jahre im Exil, in Deutschland und den USA.

Ladislav Smoljak und Zdeněk Svěrák
Herr Pehe, warum ist Cimrman eigentlich so populär, er ist für viele Tschechen ja sogar der ‚größte Tscheche’ überhaupt…

„Ich glaube, Cimrman ist vor allem deshalb beliebt, weil er schon während des Kommunismus einen besonderen Humor verkörperte hat, der auf seine Art subversiv war: Die professorenhaften Vorlesungen, die fester Bestandteil jeder Theatervorstellung sind, parodierten die kommunistische Ideologie mit ihrer falschen Mystifizierung und plumpen Geschichtsdeutung. Damals haben die Tschechen begonnen, sich diesen Humor anzueignen, und daran hat sich auch nach dem Ende des Kommunismus nichts geändert.“

Denkmal von Jára Cimrman
Als Außenstehender hat man den Eindruck, dass Cimrman für viele Tschechen weit mehr verkörpert als eine bestimmte Art von Humor. Er scheint fast eine Art Lebensphilosophie zu sein...

„Dieser Humor ist zu einem guten Teil eine Selbstironisierung. Gleichzeitig verbirgt sich dahinter aber auch ein ernsteres Problem: die Tatsache nämlich, dass die Tschechen eigentlich gar nicht wissen, was ihre nationale Identität ist. Das hat sich auch 2005 bei der Umfrage „Wer ist der größte Tscheche?“ gezeigt. Damals hat Jára Cimrman die meisten Stimmen bekommen, noch vor Kaiser Karl IV. Cimrman wurde letztlich aus dem Wettbewerb ausgeschlossen, weil er keine reale Person ist. Aber allein die Tatsache, dass er gewonnen hätte, ist ein Zeichen für den selbstironischen Zugang der Tschechen zu ihrer eigenen Geschichte und Identität.“

Der ehemalige Dissident František Janouch hat vor den diesjährigen Parlamentswahlen die Tschechen dazu aufgerufen, Cimrman als Anleitung zum Wählen zu benutzen. In seiner Initiative defenestrace 2010 - also soviel wie Fenstersturz 2010 – rief er dazu auf, ‚defensiv’ zu wählen und nur Kandidaten auf den hintersten Listenplätzen anzukreuzen. Sehen Sie einen solchen Aufruf als symptomatisch für die Einstellung vieler Tschechen zur Politik?

„Das stimmt, die Cimrman-Philosophie steht für eine stark defensive Haltung – zur Realität, zur Welt, zur Politik. So ist sie entstanden und so hat sie den Kommunismus überlebt. Dass sie immer noch weiterlebt und so populär bei den Tschechen ist, das ist in meinen Augen ein Zeichen für fehlende Ernsthaftigkeit gegenüber der eigenen Geschichte und Identität. Ich denke, das ist ein generelles Problem – Tschechien war häufig okkupiert, von außen regiert und lange in seiner Provinzialität gefangen. Als Reaktion darauf haben die Tschechen die Außenwelt verspottet. Und weil ein kleines Volk kein wirkliches Genie hervorbringen kann, das mit Jára Cimrman vergleichbar wäre, hat man sich ein fiktives Genie geschaffen.“

Mögen Sie persönlich diese Art von Humor? Oder ist Sie Ihnen eher fremd? Sie haben ja lange Jahre im Ausland gelebt und zum Beispiel in den USA ein wesentlich aktiveres politisches und gesellschaftliches Leben kennen gelernt…

Film „Jára Cimrman liegend,  schlafend“
„Ich muss zugeben, dass mir dieser Humor als solcher zwar nicht fremd ist – schließlich bin ich hier geboren und aufgewachsen. Aber als Haltung ist mir die Philosophie von Cimrman, die ja in gewisser Weise mit der von Schwejk vergleichbar ist, fremd und manchmal sogar zuwider. Ich sehe dahinter eine gewisse Schwäche, einen Mangel an Mut, den Dingen direkt ins Gesicht zu sehen. Die Tschechen haben eine riesige Angst vor Pathos, sie zeigen nicht gerne offen ihre Gefühle. Cimrman ist eine gute Maske, hinter seinem intelligenten Spott kann man sich gut verstecken.“

Ist Cimrman in Ihren Augen eine Art Schlüssel, um die Tschechen zu verstehen? Oder wäre das eine Übertreibung?

„Cimrman ist sicherlich ein Schlüssel, um die Tschechen zu verstehen – ähnlich wie das für eine bestimmte Zeit im 20. Jahrhundert Josef Schwejk war. Cimrman ist in gewisser Weise sein Nachfolger. Beide sind so sehr mit der tschechischen Mentalität verbunden, dass sie fast schon keine fiktiven Gestalten mehr ist, sondern reale.“

Wird der Cimrman-Kult nach dem Tod von Ladislav Smoljak weiterleben?

„Das wird sehr schwierig sein. Ich kannte Ladislav Smoljak gut, er war wirklich einer der geistigen Väter dieses Theater. Alle zentralen Ideen für die Stücke sind in Zusammenarbeit mit Zdeněk Svěrák entstanden, und ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Svěrák fähig ist, das alleine fortzusetzen. Oder umgekehrt Smoljak ohne Svěrák. Ich glaube, das Werk von Cimrman ist mit dem Tod von Smoljak beendet. Außerdem glaube ich, dass es in Tschechien jetzt, 20 Jahre nach dem Ende des Kommunismus, gerade zu einem Umbruch kommt – politisch und kulturell. Hier ist eine neue Generation herangewachsen, für die Cimrman schon nicht mehr so relevant sein wird. Sie respektiert Cimrman zwar als kulturelles Erbe, aber nicht als Persönlichkeit, die sie direkt anspricht. Das sieht man auch am Publikum des Cimrman-Theaters, das überwiegend aus älteren Zuschauern besteht.“