EU-Erweiterung: Arbeitnehmerfreizügigkeit vorerst nicht garantiert

Foto: Europäische Kommission

Zu den vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes gehört bekanntlich der "freie Personenverkehr". Reisefreiheit von Lissabon über Prag nach Tallin bleibt aber auch nach der Osterweiterung im Mai dieses Jahres ein Wunsch. Denn an den meisten Grenzen wird weiterhin kontrolliert. Auch die vollständige Niederlassungs- und Beschäftigungsfreiheit bleibt noch lange ein Traum im Euroraum. Der Grund: Einige alte, und vielleicht auch manche neue EU-Länder versperren den Zugang zum Arbeitsmarkt durch "Übergangsfristen". Gerald Schubert von Radio Prag und Petra Kohnen von der Deutschen Welle haben sich gemeinsam diesem Thema gewidmet. Mit von der Partie ist - quasi als selbst Betroffener - auch Radio Prag-Mitarbeiter Daniel Satra. Der nun folgende "Schauplatz" zum Thema entstand als Koproduktion beider Sender, finanziert von der Europäischen Kommission.

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Die Arbeitslosenzahlen in der Tschechischen Republik steigen. Entsprechend voll ist es in den Arbeitsämtern, denn sie sind die ersten Anlaufstellen. Berge von Formularen müssen ausgefüllt, Unterlagen zusammengestellt und eingereicht werden. Das gilt auch für ausländische Arbeitssuchende - mit dem Unterschied, dass die bürokratischen Hürden um ein Vielfaches höher sind.

"Ja, bitte? Sie sprechen mit dem Arbeitsamt. Haben Sie schon die entsprechenden Formulare ausgefüllt? Und hier bei uns abgegeben? Nein, dann müssen sie das zuerst machen und bei uns abgeben. Nein, nein, nein - das wird nicht in einer Woche erledigt, sondern in vier. Auf Wiedersehen."

Daniel Satra will es nicht glauben: Vier Wochen und wahrscheinlich länger werden seine Unterlagen geprüft. Da stehen die Tschechen kurz vor der Aufnahme in die Europäische Union, und von Niederlassungs- und Beschäftigungsfreiheit keine Spur. Der junge EU-Bürger will in Prag arbeiten. Er hat bei Radio Prag einen Job gefunden. Und nun benötigt er neben seiner Aufenthaltsgenehmigung auch noch eine Arbeitserlaubnis, vor allem aber viel Zeit und Geduld:

"Ich brauche erst einmal die Formulare fürs Arbeitsamt. Wenn ich die habe, das ist der erste Schritt, dann kommen lauter kleine weitere Schritte. Ich brauche zum Beispiel einen Auszug aus dem tschechischen Strafregister, ich brauche ein polizeiliches Führungszeugnis der Bundesrepublik Deutschland. Dann brauche ich einen Mietvertrag und dann zu allem Überfluss muss ich auch noch von Prag nach Berlin fahren, um das bei der tschechischen Botschaft tatsächlich beantragen zu können."

Chancen auf dem tschechischen Arbeitsmarkt hat nahezu jeder Ausländer, heißt es. Vorausgesetzt der Arbeitgeber weist nach, dass er keine inländische Arbeitskraft finden kann, erklärt der Direktor der Abteilung für Migration und Ausländerintegration am tschechischen Ministerium für Arbeit und soziale Angelegenheiten, Michal Meduna:

"Unser System, das jetzt für die Beschäftigung von Ausländern gilt, basiert auf der Ausstellung von Arbeitsgenehmigungen. Das heißt, das örtliche Arbeitsamt muss nachweisen können, dass eine Stelle längere Zeit nicht mit einem Tschechen besetzt werden konnte. In diesem Fall besteht dann natürlich die Möglichkeit, einen Ausländer einzustellen."


Stichtag 1. Mai. Der Tag der EU-Erweiterung. Wird er den Zugang zum tschechischen Arbeitsmarkt erleichtern? Nicht unbedingt, denn Arbeitsminister Zdenek Skromach will erst einmal abwarten:

"Die Tschechische Republik wird nicht im Vorfeld die Möglichkeit ausschließen, eine Übergangsfrist auf der Grundlage der aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt in der Tschechischen Republik einzuführen. Und dies sowohl gegenüber EU-Staaten als auch gegenüber den neuen Beitrittsländern. Selbstverständlich wollen wir dieses Mittel nicht als irgendeine Form der Sanktion gegen diejenigen einsetzen, die ebenfalls eine Übergangsfrist einführen werden. Aber es wird davon abhängen, wie sich diese Sache nach dem Beitritt Tschechiens zur EU entwickeln wird."

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Der Minister ist sich aber ziemlich sicher, dass Westeuropäer den tschechischen Arbeitsmarkt nicht bedrohen werden. Aus den alten EU-Ländern kommen ohnehin nur Spezialisten, die in Tschechien nicht zu finden sind. Prag wirbt seit langem um Investitionen. Viele westeuropäische Firmen öffnen Niederlassungen und bringen ihre Leute mit. Die Folgen dieser Entwicklung sind derzeit schwer einzuschätzen, meint Milada Horakova vom Forschungsinstitut für Arbeit und Soziales:

"Der Raum, in dem wir uns befinden werden, dieser Raum öffnet sich. Und so lässt sich nicht ausschließen, dass sich die Immigration insgesamt erhöhen wird, und zwar auch aus den bisherigen EU-Mitgliedsstaaten. Obwohl es bei uns, was die Löhne betrifft, weit weniger attraktive Arbeitsmöglichkeiten als in der Europäischen Union gibt. Aber wir müssen uns dessen bewusst sein, dass ausländische Firmen hier her kommen und auch ihre Arbeitnehmer mitbringen."

Tschechen können natürlich auch Firmen im EU-Raum gründen oder sich eine Arbeit suchen. Einige EU-Länder wie zum Beispiel Irland öffnen ihre Arbeitsmärkte ohne Einschränkung. Andere, wie die Nachbarländer Österreich und Deutschland bestehen auf Übergangsfristen, erläutert die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen, Gabriele Erpenbeck:

"Tschechische Arbeitnehmer werden in den nächsten sieben Jahren nach dem Beitritt weiterhin als Saisonarbeitnehmer arbeiten können, wie das jetzt schon der Fall ist. Und es könnte sein, dass noch in einigen Ausnahmebereichen Möglichkeiten bestehen - jedenfalls in Deutschland. Das sind jedoch ziemlich eng begrenzte Ausnahmen von dem Anwerbestop, den wir im Augenblick haben. Aber: Sie können im Bereich der Dienstleistungen, wenn sie sich selbstständig machen, im Transportgewerbe, im Gaststättengewerbe, also überall da, wo Dienstleistungen erbracht werden, nach Deutschland kommen und als Selbstständige mit einem kleinen Unternehmen auftreten."


Wie in allen Aufnahmeländern sind es auch in Tschechien vor allem die jüngeren Leute, die sich vorstellen können, in den alten EU-Ländern zu arbeiten. Pavel Novy studiert Landwirtschaft, er würde gerne außerhalb Tschechiens arbeiten. Um sich über Wasser zu halten, verkauft er zurzeit Fotografien auf der Karlsbrücke.

"Ich heiße den Beitritt Tschechiens zur EU sehr willkommen, vor allem weil es die Möglichkeit geben wird, frei zu reisen und frei überall in Europa zu arbeiten. Ich sehe das sehr positiv."

Vaclav Havel, ehemaliger Staatspräsident und Schriftsteller, bestärkt seine Landsleute, insbesondere die jungen Leute, in der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, eine Chance zu sehen.

"Ich glaube, es wachsen neue Generationen heran, die bereits in freien Verhältnissen aufgewachsen sind und ein gewisses Selbstbewusstsein als Bürger in sich tragen."

Selbstbewusst ist die Biologiestudentin Pavlina Madova durchaus. Sie kann sich vorstellen, für eine bestimmte Zeit im Ausland zu arbeiten, zunächst interessiert sie sich jedoch für einen Studienaustausch:

"Ich bin Studentin, für junge Leute wird es sicherlich mehr Möglichkeiten geben, um im Ausland zu studieren. Das erwarte ich mir hauptsächlich."

Junge Leute können natürlich auch heute schon außer Landes studieren. Sie haben zudem die Möglichkeit - so die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen, Gabriele Erpenbeck - in einem bestimmten zeitlichen Rahmen zu jobben, aber:

"... mit Begrenzungen, die für alle ausländischen Studenten in Deutschland gelten. Und zwar ist das befristet auf 120 Tage im Jahr. Das reicht nicht, wenn man darauf angewiesen ist, sein Studium durch eigene Arbeit zu finanzieren. Und das wird auch noch eine Weile so bleiben."


Wanderbewegungen auf dem Arbeitsmarkt gibt es natürlich nicht nur zwischen Tschechien und dem Europa der 15, sondern auch innerhalb der neuen EU-Länder. So gehören Polen und Slowaken seit Jahren zu den Pendlern, die zum Arbeitsplatz über die Grenze fahren. Das gilt nach Michal Meduna - Direktor der Migrationsabteilung im tschechischen Arbeitsministerium - vor allem für bestimmte Regionen:

"Eines der am meisten belasteten tschechisch-polnischen Grenzgebiete ist die nordmährische Region Ostrava: Hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Infrastruktur, Restrukturierung der Bergbauindustrie. Auf der anderen Seite der Grenze, in Polen: Noch höhere Arbeitslosigkeit, noch umfangreichere Restrukturierungen im selben Industriezweig."

Nach dem EU-Beitritt könnte die Grenze hier für Arbeitssuchende dichter werden. Denn Tschechien hätte laut Beitrittsvertrag die Möglichkeit, Sperrfristen einzurichten. Das könnte auch für slowakische Arbeitnehmer negative Folgen haben. Die Slowaken und Tschechen haben seit der Trennung der Tschechoslowakei im Jahr 1993 verabredet, gegenseitig auf eine Arbeitserlaubnis zu verzichten. In der erweiterten EU sind derartige Abkommen Makulatur.


Viele Leute - besonders ältere - fürchten, dass mit dem EU-Beitritt die Selbstständigkeit des Landes verloren geht, dass sie sich zu sehr an Brüsseler Regeln halten müssen. Auch die Rentnerin Libuse Olenova zählt zu den Euro-Skeptikerinnen:

"Was man so alles hört, was wir in Zukunft nicht mehr dürfen, was alles eingeschränkt wird, was wir tun müssen, das deutet daraufhin, dass wir unsere Souveränität verlieren werden."

Die Leiterin des Informationszentrums der Europäischen Union in Prag, Daniela Cervova, kennt die Sorgen der Menschen:

"Was die Skepsis angeht: die hängt damit zusammen, dass die Leute Angst davor haben, dass wir unsere nationale Identität verlieren. Wir sagen natürlich, das ist Unsinn. Die Österreicher sind vor Jahren beigetreten und haben ihre nationale Identität gar nicht verloren. Keiner verliert die Identität in Europa."

Davon ist auch Premierminister Vladimir Spidla überzeugt:

"Wir sind also für eine Integration unter Beibehaltung des Respekts zwischen kleinen und großen Staaten. Und die europäische Praxis zeigt klar: dieser Respekt ist vorhanden. Natürlich gibt es da und dort auch Schattenseiten, und es ist nicht immer alles zu jedem Augenblick perfekt. Klar. Aber: Es GIBT kein anderes System, es GIBT keine andere Union, die eine SOLCHE Gleichberechtigung garantieren würde."


Sie hörten einen Beitrag von Gerald Schubert und Petra Kohnen, entstanden als Koproduktion von Radio Prag und der Deutschen Welle. Finanziert wurde das Projekt von der Europäischen Kommission.