"Europa hat gezeigt, dass es erweitertungsfähig ist." EU-Parlamentarier Libor Roucek über das EU-Verhandlungsangebot an die Türkei
Nach jahrzehntelangem Hin und Her im Streit um eine Aufnahme der Türkei in die EU wurde gestern zwar nicht der letzte, aber ein sehr bedeutender Schritt in Richtung der europäischen Integration der Türkei gemacht. Die EU-Kommission empfahl, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Thomas Kirschner bat den tschechischen Europa-Abgeordneten Libor Roucek (CSSD) um eine Einschätzung.
Die Türkei - ein islamisch geprägtes Land mit mehr als 70 Millionen Einwohnern, einer Kultur, die sich von der mitteleuropäischen stark unterscheidet und einem im europäischen Durchschnitt vergleichsweise niedrigen Entwicklungsstand. Kann Europa einen solchen Brocken verkraften? Libor Roucek, Abgeordneter der tschechischen Sozialdemokraten im Europa-Parlament, meint ja. Aber er weist darauf hin, dass es bis einem Beitritt noch ein langer Weg sein wird.
"Was die Kommission gestern getan hat, ist, dass sie ein Angebot an die Türkei übergeben hat, dass man mit den Verhandlungen beginnen kann. Also nicht der Beitritt, sondern erst die Verhandlungen. Und natürlich ist sich jeder der Tatsache bewusst, dass die Türkei eine andere Gesellschaft ist als zum Beispiel die deutsche, französische, finnische oder ungarische. Aber der Globalisierungsprozess schreitet weltweit fort, Europa wird multikultureller und die Türkei ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Mitglied verschiedener, auch europäischer Institutionen. Und man kann sagen, dass Ankara ein wertvolles und verantwortungsvolles Mitglied ist."
Zwar betont Roucek, dass die Türkei schon seit langem ein Partner für Europa ist, zugleich sieht er die gestrige Empfehlung der EU-Kommission aber vor allem als Unterstützung für die Türkei, den Reformprozess fortzusetzen, der sie näher an Europa heranführt.
"Was die europäische Kommission gestern getan hat, ist, dass sie der Türkei eine Möglichkeit gegeben hat, die Reformprozesse weiterzuführen - nicht nur im Bereich der Wirtschaft, sondern besonders auch im Bereich der Menschenrechte, der Bürgerrechte, der Reform des politischen Systems usw."Wenn ein tschechischer Europa-Abgeordneter über eine - und sei es erst in fernerer Zukunft - bevorstehende EU-Erweiterung spricht, dann fließen dabei natürlich auch Erfahrungen mit dem Beitritt der eigenen Landes ein, der schließlich gerade erst einige Monate zurückliegt:
"Vor fünf Monaten ist nicht nur Tschechien, sondern auch neun andere Länder der EU beigetreten. Es gab vielerlei Befürchtungen auf beiden Seiten, nicht nur in der Tschechischen Republik oder Ungarn. Da hat man gefürchtet, dass es zum Beispiel zu Preissteigerungen kommt - es kam aber nicht dazu. Es hat sich gezeigt, dass Europa im Stande ist, neue Länder aufzunehmen. Das ist ein Positivum, nicht nur für die neuen Länder, sondern auch für die älteren Mitglieder."
Libor Roucek gibt zu, dass auch er heute noch Mühe hat, sich die Türkei als EU-Mitglied vorzustellen. Den Optimismus, dass sich dies einmal ändern wird, schöpft er als Tscheche aus der eigenen Geschichte. Denn wer hätte sich vor 15 Jahren denken können, dass heute auch Tschechien zur EU gehört.