Einflussreichste Tschechin in der EU: Kommissions-Vizepräsidentin Věra Jourová
Věra Jourová ist seit fast zehn Jahren eine der bekanntesten tschechischen Persönlichkeiten in Brüssel. 2019 wurde die ehemalige Ministerin und EU-Kommissarin, die heute Vizepräsidentin der Europäischen Kommission ist, vom Time-Magazin in das Ranking der 100 einflussreichsten Menschen der Welt aufgenommen. Dabei war ihr Eintritt in die EU-Exekutive von Zweifeln begleitet. Denn sie wurde mit einem Ressort betraut, das sie sich nicht gewünscht hatte. Der Beitrag entstand als Studiogespräch mit Viktor Daněk, er ist stellvertretender Direktor des Instituts für europäische Politik Europeum und ehemaliger Korrespondent des Tschechischen Rundfunks in Brüssel.
Věra Jourová ist die erste Tschechin, die es auf die Liste des Time-Magazins geschafft hat. Sie sei darüber überrascht, sagte sie selbst damals in der Reaktion darauf:
„Es war für mich schwer zu glauben, denn ich fühle mich nicht besonders einflussreich oder wichtig. Ich bin immer noch eine normale Frau. Aber es ist eine Freude und eine Anerkennung nicht nur für meine Arbeit, sondern auch für die Arbeit meines Teams. Und ich werde versuchen, so geschickt wie möglich damit umzugehen.“
Durchsetzung von GDPR
Viele Menschen in der sogenannten Brüsseler Blase behaupten gerne, dass die europäischen Regulierungsvorschriften eine globale Reichweite haben. Das ist nicht immer richtig. Aber was den Online-Verbraucherschutz angeht, ist die EU tatsächlich ein Vorreiter. Eine Schlüsselrolle gespielt hat dabei unter anderem die Datenschutz-Grundverordnung, die unter ihrer englischen Abkürzung GDPR bekannt ist. Jourová hat sie nicht erfunden, sie ist als Kommissarin auf einen fahrenden Zug aufgesprungen. Aber es ist ihr gelungen, die Vorlage in äußerst schwierigen Verhandlungen durchzusetzen. Sie konnte sogar die großen amerikanischen Technologieriesen, die sich der Verordnung widersetzt und dafür ganze Armeen von Lobbyisten nach Brüssel geschickt hatten, von der Notwendigkeit dieser Regelung überzeugen. Mit der Datenschutz-Grundverordnung wurde das Recht auf Vergessenwerden eingeführt, das Recht auf Benachrichtigung bei Datenlecks und das Recht, die Verwendung privater Daten zu verweigern.
„Wir haben den Bürgern mehr Kontrolle über ihre Daten versprochen, um ihnen mehr Macht zu geben, gegen Unternehmen vorzugehen, die diese Daten missbrauchen. Um das zu erreichen, arbeiten wir hart daran, das Bewusstsein der Menschen für die eigenen Rechte zu schärfen“, so Jourová.
Laut Daněk konnte die EU-Kommissarin ihre Erfahrungen als jemand nutzen, der zu kommunistischen Zeiten aufgewachsen ist und daher besonders empfindlich auf Eingriffe in die Privatsphäre reagiert. Und habe sie sich nicht gescheut, ins Silicon Valley zu gehen, um sich den Führern der Technologieunternehmen persönlich zu stellen. Letztlich begannen sogar ihre größten Gegner, wie Facebook-Gründer und Meta-Chef Mark Zuckerberg, sich für die Datenschutz-Grundverordnung einzusetzen.
„Alles ist in wenigen Grundsätzen konzentriert. Jeder muss die Kontrolle über seine Daten haben, es muss Transparenz dabei geben, wie persönliche Daten verwendet werden, und die Unternehmen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie diese Daten missbrauchen. Das sind Werte, die wir alle teilen“, sagte Zuckerberg.
In Tschechien gibt es wahrscheinlich niemanden anderen, der so intensive Kontakte zu den Chefs der weltgrößten Technologieunternehmen unterhält. Tatsächlich wurde die europäische Gesetzgebung zum Schutz der Privatsphäre zu einem Vorbild beispielsweise für die amerikanische Gesetzgebung.
Karriere dank einem Zufall
Věra Jourová hat sich weltweit einen guten Ruf im Ressort Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung erworben, in dem sie selbst eigentlich gar nicht arbeiten wollte. Ihre Karriere in Brüssel ist eigentlich auf einen Zufall zurückzuführen. Sie wurde als Kompromisskandidatin nominiert, nachdem sich die Koalition in Tschechien lange über andere Namen gestritten hatte. Jourová strebte dann das Ressort Regionalpolitik an, mit der sie sich bis dahin praktisch ihre gesamte Karriere lang beschäftigt hatte. Doch Kommissionspräsident Jean Claude Juncker änderte seine Entscheidung in letzter Minute. Das war eine Enttäuschung für Jourová, wie sie in einem Interview für den Tschechischen Rundfunk damals zugab:
„Der heutige Tag war schwierig, denn es kam eine Portfolio-Entscheidung, die ich nicht erwartet habe. Ich werde nun das Maximum an positivem Denken in mir aufbieten, und Sie können mir glauben, ich habe eine Menge davon. Aber zu der Frage, ob ich enttäuscht bin, dass ich meine bevorzugte und mir nahe liegende Regionalpolitik nicht bekommen habe, möchte ich sagen: Ja, es war enttäuschend.“
Bei Junckers Entscheidung spielte wahrscheinlich die Tatsache eine Rolle, dass Jourová einen Monat lang wegen eines falschen Korruptionsvorwurfs in Haft saß, was später dazu führte, dass sie Jura studierte. Juncker beschloss daher, ihr den sensiblen Bereich der Justiz anzuvertrauen. Trotz des schwierigen Starts hat sich Jourová einen Ruf erarbeitet, der nicht einmal durch ihre langjährige politische Beziehung zu Andrej Babiš beschädigt wurde. Und dies führte sie später auf den Posten der stellvertretenden EU-Kommissionspräsidentin.
Weitere bedeutende Tschechen in der EU
Tschechien hat in der Europäischen Union lange Zeit unter einem Mangel an einflussreichen Personen in hohen Positionen gelitten. Doch das hat sich in letzter Zeit verändert. So haben Tschechen zum Beispiel in den Bereichen Kernenergie und Verteidigung an Einfluss gewonnen. Einer der einflussreichen Tschechen ist etwa der Leiter der Europäischen Verteidigungsagentur, Jiří Šedivý. Zu den einflussreichsten Abgeordneten des Europäischen Parlaments gehört Dita Charanzová, die als Mitglied der Partei Ano gewählt wurde, aber mit ihr gebrochen hat. Und das Ansehen der Tschechischen Republik hat sich auch durch die jüngste Ratspräsidentschaft stark verbessert.
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