Fernstädt: Habe in Tschechien gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen
Die 23-jährige Anna Fernstädt ist eine deutsch-tschechische Skeletonpilotin, die vor knapp zwei Jahren einen Nationenwechsel von Deutschland nach Tschechien vollzog. In ihrer noch jungen Karriere wurde sie schon dreimal Junioren-Weltmeisterin – einmal für Deutschland und zweimal für Tschechien. Wegen ihres Wechsels musste sie jedoch in der Saison 2018/19 im Weltcup aussetzen. Im zurückliegenden Winter war sie wieder startberechtigt. Zum Saisonende hat Radio Prag sie vors Mikrofon gebeten.
„Das Ziel war ein Platz unter den Top 10, und das habe ich erreicht. Natürlich hätten einige Rennen besser laufen können. Ich bin nicht ganz zufrieden mit allen Wettkämpfen, aber im Großen und Ganzen war es schon ok.“
„Mit welchen Wettbewerben waren Sie besonders zufrieden, und wo ist es nicht so gut gelaufen?
„Nicht ganz so gut gelaufen ist es in Igls, da war ich nur Zwanzigste. Sigulda hätte auch ein bisschen besser sein können, doch dort habe ich ein paar Fehler gemacht. Klar, am Start büße ich immer etwas ein und liege zunächst weit hinten. Wenn ich dann aber noch ein paar Fehler in der Bahn mache, bin ich nie ganz zufrieden. La Plagne wiederum war eine ganz neue Bahn für mich, von daher hatte ich dort keine hochgesteckten Ziele. Das ging, und die restlichen Wettkämpfe waren eigentlich ganz in Ordnung.“
Da sind wir auch schon beim Hauptthema, und das sind die Startzeiten. Sie haben vor der Saison viel Wert auf Sprints und damit die Startschnelligkeit gelegt. Doch im Wettkampf gab es nicht den gewünschten Effekt. Warum?„Das wissen wir selber nicht. Es könnte sein, dass wir ein bisschen zu wenig in der Position des Anschiebens gemacht haben. Der Sprint hat sich sehr verbessert, deswegen waren wir auch alle verwundert, warum es quasi nicht vorwärtsgegangen ist. Wir müssen daraus lernen, denn dies sollte sich nicht wiederholen. Ich hoffe, im nächsten Jahr wird es besser, nachdem wir jetzt wissen, was nicht funktioniert.“
War vielleicht auch das neue Reglement bei den Kufen ein Grund für die wenig berauschenden Startzeiten? Wie sind Sie damit zurechtgekommen?„Also, die Kufen haben keinen Effekt auf die Startzeiten. Wir hatten jedoch noch eine zweite Regeländerung. Sie betraf das Gewicht von Rennfahrer, Schlitten und Ausrüstung. Hierfür musste ich viel abnehmen. Es könnte sein, dass es daran gelegen hat. Das werden wir jetzt in Ruhe analysieren.“
War die neue Gewichtsregel für Sie persönlich gut oder eher nicht?
„Ich denke, für mich persönlich war es gut, für meinen Körper. Auf der anderen Seite war ich immer eine der Schwersten im Feld. Der Vorteil, den ich dadurch hatte, war damit komplett weg. Denn bei einer Bergab-Sportart wie dem Skeleton ist mehr Gewicht logischerweise besser. Vordem konnte ich damit meine schwachen Startzeiten immer einigermaßen kompensieren. Klar, ich bin auch sonst gut gefahren, aber irgendwo hatte ich dann schon mal diese fünf bis zehn Kilogramm mehr als manche Konkurrentin. Diesen kleinen Vorteil hatte ich halt dieses Jahr nicht.“
Neues Umfeld hat mir den Spaß zurückgebracht
Der Wechsel von Deutschland nach Tschechien war möglich, weil ihr Vater Deutscher ist, ihre Mutter aber Tschechin. Doch es war auch zu hören, dass dies nicht der einzige Grund war. Könnten Sie bitte noch einmal die wichtigsten Gesichtspunkte für Ihren Wechsel wiederholen?„Es gab viele Gründe. Es war eine sehr schwierige Entscheidung für mich. Mit meinem damaligen Trainer war das so ein Hin und Her, mir hat Skeleton keinen Spaß mehr gemacht. Da habe ich mir gesagt: Im Endeffekt ist es nur Sport, doch wenn dann meine mentale Gesundheit dranhängt, und du dich nur noch durch den Winter quälst und durch den anschließenden Sommer, dann ist es das einfach nicht mehr wert. Mit dem Sport verdiene ich auch nicht meinen Lebensunterhalt, deswegen habe ich überlegt, ob es noch Sinn macht, in Deutschland aktiv zu sein. Dank meiner Mutter hatte ich die Möglichkeit, nach Tschechien zu wechseln. Ich habe auch abgewogen, mit dem Leistungssport ganz aufzuhören. Aber als man mir dann in Tschechien gesagt hat, es sei kein Problem, dass ich hierzulande Skeleton betreibe, bin ich hierhergekommen.“
Was hat Ihnen den Spaß zurückgebracht, hier in Tschechien?„Es war einfach nur gut, dass ich hier ein neues Umfeld hatte. Ich will nicht sagen, dass ich nun Tun und Lassen konnte, was ich wollte, doch ich hatte schon ein paar Freiheiten mehr. Die ganzen Problemchen, die ich vorher hatte, waren auf einmal weg. So konnte ich mich auch wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Und wenn man den Spaß zurückgewinnt, dann funktioniert es irgendwann auch wieder.“
Die abgelaufene Saison war Ihre zweite, die Sie im Trikot der Tschechischen Republik bestritten haben. Was sind die größten Unterschiede zu Ihrem vorherigen Engagement in Deutschland?
„Der größte Unterschied ist der, dass wir hier in Tschechien kein großes Team haben. In Deutschland war ich es gewohnt, mit fünf anderen Athletinnen unterwegs zu sein, ich hatte fünf bis sechs Betreuer, einen Physiotherapeuten und vieles mehr. Das ganze Drum und Dran ist gut organisiert. Du brauchst quasi nur zur Abfahrt irgendwo zu erscheinen. Es wird so gut wie alles für dich gemacht. Jetzt aber muss ich fast alles alleine tun. Ich habe eigentlich nur einen Bahntrainer. Zudem habe ich eine Kooperation mit der Schwedin Leslie Stratton. Somit haben wir einen Trainer zu zweit. Keiner von uns beiden aber hat seinen festen Athletiktrainer dauerhaft dabei. Meiner war zwar bei einigen Wettkämpfen zugegen, aber auch nicht bei allen. Einen Physiotherapeuten haben wir so gut wie gar nicht. Wir klären gerade, für die nächste Saison jemand dafür zu engagieren. Fazit: Die Größe vom Team und der hohe Anteil an Eigenorganisation, das ist der größte Unterschied zu Deutschland.“
Ist das nicht ein bisschen abenteuerlich, wenn man das so hört?
„Es ist abenteuerlich, und ehrlich gesagt: Es ist mehr Arbeit, als man im ersten Moment denkt. Aber man lernt auch viel daraus, zum Beispiel Hotels selbst buchen, Flüge buchen oder Autos reservieren. Man steht also mehr auf seinen eigenen Beinen.“
Bin gebürtige Pragerin, aber als Landei aufgewachsen
Wie kommt man eigentlich als junges Mädchen zum Skeleton? Was ist das für ein Gefühl, wenn man mit dem Kopf nach vorne eine Rodelbahn herunterfährt?
„Meine Familie hat südlich von Frankfurt / Main in Groß-Umstadt gelebt, das ist in der Nähe von Darmstadt. 2010 sind wir dann aber nach Berchtesgaden in Bayern gezogen. Dort lag die künstliche Bob- und Rodelbahn quasi vor unserer Haustür. Vor dem Umzug haben mein Bruder und ich in einem hessischen Sportklub geturnt, in Berchtesgaden aber gab es dafür keinen richtigen Verein. Deswegen haben wir Ausschau gehalten, welchen Wintersport wir hier betreiben könnten. Mein Bruder ist dann aufs Snowboard gestiegen, und ich bin an der Rodelbahn gelandet. Dort hat man mir gesagt: „Naja, zum Rodeln bist du schon zu alt.“ Für das Bobfahren aber war ich noch zu jung, also blieb mir nur noch der Skeleton.“
War das Liebe auf den ersten Blick? Oder mussten Sie sich erst Schritt für Schritt daran gewöhnen?
„Nein, das war Hass auf den ersten Moment (lacht). Am Anfang lassen sie dich nicht von ganz oben starten. Du fährst quasi von Kurve zwei oder drei los. Trotzdem war es ganz schlimm. Mir hat alles wehgetan, ich wollte eigentlich schon nach der ersten Fahrt aufhören. Aber man hat mir gesagt, es sähe ganz gut aus, wie ich auf dem Schlitten liege. Und ich hätte auch ein ganz gutes Körpergefühl, was ich mir durch das Turnen angeeignet hatte. Also hat man mich dazu überredet, noch ein paar Fahrten zu machen. Nach der vielleicht zehnten Fahrt ist es dann tatsächlich besser geworden, und so bin ich dabeigeblieben.“
Ihre Geburtsstadt ist Prag. Haben Sie denn jetzt, wo Sie in Tschechien leben, schon Zeit dafür gefunden, die Moldaumetropole näher kennenzulernen? Und wie gefällt sie Ihnen?
„Prag gefällt mir ganz gut, obwohl ich kein Großstadttyp bin. Die Altstadt ist sehr schön, doch alles drumherum ist nicht unbedingt meins. Ich bin schließlich auf dem Land aufgewachsen. Mein Bruder ist immer noch in Berchtesgaden, und auch ich bin oft dort. Von daher glaube ich nicht, dass es mich irgendwann nach Prag verschlagen wird. Ich studiere jetzt zwar hier Finanz- und Verwaltungswirtschaft und Management, doch man kann das Ganze eher mit einem Fernstudium vergleichen. Meine Mama wohnt in Budweis. Diese Stadt ist aber längst nicht so groß wie Prag. Wie gesagt: Die Prager Altstadt ist wunderschön, doch alles drumherum ist mir einfach zu groß.“
Sind Sie froh, dass Ihnen Ihre Mutter Tschechisch beigebracht hat?
„Auf jeden Fall. Ich denke, jeder, der zweisprachig aufgewachsen ist, kann sich dafür bei seinen Eltern nur bedanken. Ich glaube, dass ich mein Studium auch in der Muttersprache machen könnte, doch dann müsste ich mich noch mehr in das schriftliche Tschechisch einfuchsen. Aber der Grund dafür, warum ich Englisch gewählt habe, ist der, dass dieses Studium etwas internationaler ist und ich nicht an Tschechien gebunden bin. Zudem wird dieses Studium fast überall anerkannt.“
Sie haben auch Verwandte hier in Tschechien. Waren Sie deshalb früher in den Schulferien schon öfter hier? Und treffen Sie ihre Verwandten auch heute noch regelmäßig?
„Ja, als Kind habe ich öfter Oma und Opa in Prachatice / Prachatitz besucht, beziehungsweise Babí und Děda, wie man hierzulande sagt. Nur eine Stunde von Prag entfernt wohnt meine Tante, die Cousine von meiner Mama wohnt hier in Prag. Ich habe also wirklich viele Verwandte hier in Tschechien.“
War eigentlich jemand aus Ihrer Familie enttäuscht, als Sie vor zwei Jahren von Deutschland nach Tschechien gewechselt sind?
„Sicher, mein Vater war enttäuscht, meine Mutter war froh. Aber im Ernst: Es gab bestimmt ein paar Leute, die darüber enttäuscht waren oder die es auch ein bisschen mitgenommen hat. Im Endeffekt aber war das eine persönliche Entscheidung von mir, und da kann ich jetzt auch keine Rücksicht darauf nehmen, ob das nun jemand schade findet oder nicht. Letztlich ging es um mich, ob ich wieder Freude an meinem Sport finde und meine Karriere fortsetzen will. Und in der Hinsicht darf man dann irgendwo auch ein bisschen egoistisch sein.“
Andererseits, Ihr größter Fan kommt sicher auch aus der Familie, oder?
„Ja, mein Opa aus Prachatice, das ist mein größter Fan.“
Olympiamedaille – wer will die nicht gewinnen?
Sportlich richten Sie Ihre Blicke aber bestimmt schon nach vorn zu den Olympischen Spielen 2022 in Peking. Wie auf der heutigen Pressekonferenz zu erfahren war, wird sich dazu auch Ihr ganzes Umfeld im Trainer- und Betreuerstab etwas verändern. Wollen Sie dann auch die erste Tschechin sein, die im Skeleton eine olympische Medaille gewinnt?
„Wer will das nicht! Klar wäre das schön, doch zunächst gilt es, einen Schritt nach dem anderen zu setzen. Also erst einmal muss ich das harte Training im Sommer überstehen und dann sehen, wie es sich auf die nächste Saison auswirkt. Allerfrühestens dann kann man Ziele setzen für Olympia. Jetzt steht zuerst die nächste Qualifikation im Vordergrund, dann die WM und schließlich die Olympiaqualifikation beim ersten Weltcup in Peking. Ich hoffe, dass dann die Thematik rund um das Coronavirus schon längst Geschichte ist.“
Wintersport ist in Tschechien ziemlich präsent, vor allem dank solcher Top-Athletinnen wie Ester Ledecká, Martina Sáblíková und Eva Samková. Motiviert Sie solch ein Umfeld noch zusätzlich? Und hatten Sie schon persönlich Kontakt mit einer dieser Olympiasiegerinnen?
„Das motiviert mich mega. Martina Sáblíková habe ich ab und zu schon getroffen. Natürlich sehen wir uns nicht regelmäßig, weil jeder seinem eigenen Training und den unterschiedlichen Wettkämpfen nachgeht. Ich habe jedoch das gleiche Management wie Martina, und da liest man auch mal einen Artikel mehr und verfolgt das Ganze etwas intensiver. Das motiviert dann schon, wenn Martina und die anderen Tschechinnen so erfolgreich sind.“