Film „From Germany to Germany via Czechoslovakia“: Ehemalige DDR-Bürger erzählen über Fluchtversuche
Fünf Menschen, die versucht haben, aus der ehemaligen DDR über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik zu flüchten. Ihre Aussagen hat Jan Blažek vom Projekt „Memory of Nation“ in einem Dokumentarfilm aufgezeichnet. Martina Schneibergová hat mit dem Regisseur gesprochen.
Herr Blažek, Sie haben einen starken Dokumentarfilm gedreht, in dem Sie die Aussagen von fünf Menschen aufzeigen, die versucht haben, auf verschiedene Weise aus der DDR zu flüchten. Sie alle entschieden sich für den Weg über die Tschechoslowakei, der Film heißt deshalb auch „From Germany to Germany via Czechoslovakia“. Hatten die Flüchtenden nicht eine falsche Vorstellung über die damalige Tschechoslowakei?
„Warum über die Tschechoslowakei? Meiner Meinung nach war dahinter eine gewisse Naivität. Denn sie wussten viel über die deutsch-deutsche Grenze – vor allem aus dem westdeutschen Fernsehen. Aber sie wussten wenig über die tschechoslowakisch-bundesdeutsche Grenze sowie die Grenze zu Österreich. Einer der Zeitzeugen hat mir gesagt, dass er nach Österreich flüchten wollte, weil er dachte, dass die tschechoslowakisch-österreichische Grenze durchlässiger sei, da Österreich kein Nato-Staat ist. Das war jedoch nicht der Fall.“
Die drei Männer und zwei Frauen hatten verschiedene Motive, die DDR zu verlassen. Einige träumten schon in der Kindheit davon, bei anderen entwickelte sich erst später die Überzeugung, nicht in einem kommunistischen Staat leben zu können. Wie haben Sie die Zeitzeugen gesucht?
„Meine ursprüngliche Idee war, etwa 15 Interviews zu führen und dann die fünf besten auszuwählen – die besten im Sinne der unterschiedlichen Beweggründe. Dies war jedoch wegen der Corona-Zeit, in der wir an dem Film gearbeitet haben, schwierig. Als wir jedoch nach fünf Interviews gesehen haben, dass wir fünf unterschiedliche Persönlichkeiten gefunden haben, die alle sehr gut erzählen, entscheidende Erlebnisse haben und trotzdem eine verschiedene Motivation hatten, waren wir überrascht. Wir waren also fähig, allein anhand dieser Aussagen den kurzen Film zusammenzustellen. Einer der Zeitzeugen war ein Dissident, jemand, der nicht mehr in der DDR leben wollte – vor allem aus religiösen Gründen. Eine der Frauen hatte eine andere sehr starke Motivation: Die Stasi versuchte sie in einem sehr jungen Alter zur Zusammenarbeit zu zwingen, und dies lehnte sie ab. Die anderen hatten ganz normale, unpolitische Gründe: Der eine wollte einfach reisen, der andere wollte nicht für drei Jahre zum Militär, und Frau Hauck war verliebt.“
Der Dissident, den Sie erwähnen, ist Christian Bürger. Sein Fluchtversuch scheiterte schon am Anfang, denn er wurde bereits auf dem Gebiet der DDR verhaftet. Wurde er von einem seiner Freunde verraten?
„Ja, davon konnte sich Herr Bürger nach der Wende in den Stasi-Akten überzeugen. Seine Geschichte ist die Rahmenerzählung des Films. Sein Versuch scheiterte schon in der DDR. Er musste dies mit mehr als drei Jahren in verschiedenen Gefängnissen einbüßen. Er war einer der ersten Flüchtlinge, die sich 1989 in der Prager Botschaft um Asyl beworben haben und es ist ihm anschließend gelungen, nach Westdeutschland zu kommen.“
Er hatte jedoch noch vor dem ersten Fluchtversuch einen offiziellen Antrag gestellt, um die DDR verlassen zu können. Dieser Antrag wurde aber abgelehnt. Gab es überhaupt Menschen, denen es auf diese Weise gelang, auszureisen?
„Ja, vermutlich schon. Wenn man Glück hatte und wahrscheinlich kein so politischer Mensch wie Herr Bürger war, konnte das gelingen. Das war übrigens der Fall des Freundes von Krystina Hauck, die eine unserer Zeitzeuginnen ist. Ihr Partner, ein junger Mann, durfte mit der ganzen Familie ausreisen. Krystina war auf einmal ohne ihren Freund. Die beiden konnten jedoch in der Tschechoslowakei wieder zusammentreffen. Die Tschechoslowakei war ein Staat, den die DDR-Bürger ohne Visa besuchen durften. Die beiden haben sich dort oft getroffen. Eines Tages sagte ihr Freund, dass Krystina nach Westdeutschland mitfahren kann, und zwar im Kofferraum eines Autos, der umgebaut wurde. Auch dieser Versuch war leider nicht erfolgreich.“
Auf genauso abenteuerliche Weise versuchte Angelika Cholewa mit ihrem Mann zu flüchten. Sie entschied sich, nahe Železná Ruda zu Fuß über die Grenze zu gehen. Im Film beschreibt sie sehr ausführlich, wie weit der Weg zur Grenze war. Dann passierte jedoch etwas, und die beiden wurden verhaftet. Die Flucht wäre ihnen jedoch damals vermutlich sowieso nicht gelungen, oder?
„Wahrscheinlich nicht. Sie sind bis zu den Drahtzäunen, zu den Wachttürmen gekommen. Sie wurden dann jedoch festgenommen, weil die Situation sehr angespannt war. Der Mann von Frau Cholewa hat angeblich laut gesprochen und den Soldaten verraten, wo sie sind und sich verstecken. Frau Cholewa konnte mir alles sehr gut beschreiben, und das nicht nur aus dem Grund, dass sie die Gegend gut kannte, sondern auch, weil an dem Tag, an dem wir das Interview gemacht haben, gerade genau 40 Jahre seit dem Fluchtversuch vergangen waren. Sie konnte die Orte nun wieder besuchen und war voll von frischen Eindrücken, als sie aus dem Böhmerwald nach Prag kam. Da konnte sie ganz genau schildern, wo der Versuch stattfand und wie es dort heute aussieht.“
Angelika Cholewa landete zuerst im tschechoslowakischen Gefängnis. Die Bedingungen waren dort, wie sie sich erinnert, sehr grausam. War das auch in den anderen Fällen ähnlich?
„Das war in allen Fällen ähnlich: Sie mussten eine Woche oder mehr in der tschechoslowakischen Untersuchungshaft verbringen, meistens in Städten, die näher der Grenze lagen – wie Pilsen oder Budweis. Dort wurden sie schlecht behandelt, die hygienischen Bedingungen waren furchtbar. Sie wurden dann alle früher oder später nach Prag gebracht und von Prag aus mit Flugzeugen organisiert in die DDR geflogen. Das war für mich etwas Neues, es war überraschend, das zu hören.“
Einer der Zeitzeugen, Thomas Wieske, hatte vor, nach Österreich zu flüchten. Er wurde in der Tschechoslowakei noch verhältnismäßig weit von der Grenze entfernt, im Zug verhaftet. Wie kam es dazu?
„Herr Wieske ist heute ein sehr erfolgreicher Jurist, ein sehr kluger Mann. Er wollte schon früher Jura studieren, wollte jedoch nicht vor dem Studium für drei Jahre zum Militär gehen. Wie er das so erzählte, hatte ich den Eindruck, dass er damals wusste, dass der Fluchtversuch scheitert, weil schon viele andere vor ihm gescheitert sind und er die Geschichten kannte. Er war nicht ganz gut vorbereitet und konnte beim Treffen mit dem ersten Grenzsoldaten keine entsprechende Antwort auf seine Frage geben. Er wurde sofort verhaftet. Er wusste über die Möglichkeit des sogenannten ,Freikaufs‘, durch den die BRD die DDR-Bürger freikaufte. Herr Wieske stellte darauf einen Antrag. Sein Vorhaben ist ihm schließlich gelungen, aber er musste vorher die ganze Strafe absitzen.“
Thomas Wieske bringt im Film die Vermutung zum Ausdruck, dass die Tschechoslowakei eventuell irgendwie belohnt wurde, wenn sie DDR-Flüchtlinge festgenommen hat. Wie ist Ihre Meinung dazu?
„Als ein sehr intelligenter und gut kalkulierender Mensch konnte Herr Wieske ungefähr berechnen, wie viel das die Tschechoslowakei gekostet hat: zehn Tage Haft, der bürokratische Aufwand und alle anderen Kosten. Was seiner Meinung nach und auch meiner Meinung nach die Tschechoslowakei dafür bekommen hat, war die Stabilität des ganzen Ostblocks und auch die Stabilität des tschechoslowakischen kommunistischen Regimes. Denn erst 1989, nachdem sehr viele DDR-Bürger nach Asyl in der Botschaft in Prag gesucht hatten und ihnen schließlich genehmigt wurde, in die Bundesrepublik auszureisen, kam bald schon der Zusammenbruch der kommunistischen Regimes in der DDR sowie in der Tschechoslowakei.“
In welchen Jahren spielten sich die Fluchtversuche ab, die im Film beschrieben werden?
„Der erste Fluchtversuch, über den wir erzählen, spielte sich 1979 und der letzte 1988 ab, wenn ich nicht die Botschaftsflüchtlinge miteinberechne. Nach dem Prager Frühling, als die DDR-Bürger ohne Visa in die Tschechoslowakei reisen durften, gab es sehr viele Versuche. Die Historiker sagen, dass in manchen Jahren mehr DDR-Bürger in der Tschechoslowakei versucht haben, in den Westen zu flüchten, als tschechoslowakische Bürger. Jedenfalls bildeten die DDR-Bürger die zweitstärkste Gruppe nach den Tschechoslowaken, an dritter Stelle waren die Polen. Viele Menschen kamen bei den Fluchtversuchen ums Leben. Ich habe gelesen, dass das letzte Opfer des Eisernen Vorhangs in der Tschechoslowakei ein DDR-Bürger war.“
Hatten die Menschen, die versuchten, über die Tschechoslowakei zu flüchten, ausreichend Informationen über die Lage an der Grenze oder waren ihnen die Verhältnisse unbekannt?
„Das war eher unbekannt. Sie wussten viel mehr über die deutsch-deutsche Grenze, dass die Soldaten dort Schießbefehl haben, dass es dort Schäferhunde gibt. Aber dass es genauso gefährlich auch an der tschechoslowakischen Grenze ist, das wusste keiner von den Zeitzeugen, mit denen wir gesprochen haben. Frau Cholewa sagte, es sei ein Glück, dass sie das nicht gewusst habe. Sonst hätte sie damals viel mehr Angst gehabt.“
Wurden diejenigen, die in der Tschechoslowakei in Haft saßen, dafür entschädigt?
„Ja, das ist auch der Grund, warum wir den Film drehen konnten. Der tschechische Anwalt Lubomír Müller bemüht sich pro bono, diese Menschen aufzusuchen und sie vor den tschechischen Gerichten zu verteidigen. Er setzt sich dafür ein, dass sie rehabilitiert werden. Eine Entschädigung wurde ihnen auch zugesprochen, aber es handelte sich um eine rein symbolische Summe, die nach den finanziellen Verhältnissen von damals berechnet wurde. Was aber wichtig ist, und das haben auch die Zeitzeugen gesagt, ist das Bewusstsein, dass der tschechische Staat anerkannte, dass es Unrecht war, was mit ihnen in der Tschechoslowakei damals passierte und dass sie an ihren Rechten gehindert worden sind.“
Haben die Menschen von den grausamen Erlebnissen in den Gefängnissen Folgen davongetragen?
„Von den fünf Zeitzeugen, die im Film sprechen, wurden vier verurteilt und saßen im Gefängnis. Ich weiß von drei dieser vier Zeitzeugen, dass sie eine Behandlung gebraucht haben und dass sie bis heute noch Folgen davontragen. Manch einer ist bereit, darüber vor der Kamera zu sprechen, manch einer nicht.“
Wir haben bisher fast gar nicht über den dritten männlichen Zeitzeugen, Markus Rindt, gesprochen. Er war einer der Botschaftsflüchtlinge. Über das Reisen und eine Flucht mit dem Luftballon träumte er schon in seiner Kindheit. Wie war sein Weg?
„Sein erster Fluchtversuch spielte sich 1989 ab. Er wusste damals, dass die Erfolgschance groß ist. Er hatte damals ein anderes Problem, er musste irgendwie die Grenze zwischen der DDR und der Tschechoslowakei überwinden, denn diese wurde damals stark überwacht. Er ging mit seiner Freundin damals zu Fuß über die Grenze, sein Vater holte sie in der Tschechoslowakei ab. Sie sind dann weiter nach Prag gereist.“
Ihr Film wurde inzwischen schon bei einigen Gelegenheiten gezeigt, unter anderem vor kurzem beim Böhmerwaldseminar in Strakonice. Wo überall haben Sie die Doku schon präsentiert?
„Wir hatten die Ehre, den Film Anfang November im Rahmen der Deutsch-Tschechischen Kulturtage in Dresden zu zeigen. Am 16. November wurde er auch im Goethe-Institut in Prag vorgestellt. Inzwischen wurde er auch an mehreren Prager Schulen vorgeführt.“
Wie sind die Reaktionen der Schüler?
„Sie finden das spannend. Es ist ein Zeitzeugenfilm, kein Hollywood-Streifen, aber wir haben dennoch versucht, den Film durch die Struktur spannender zu machen und auch einige Fragen offengelassen. Die Kinder fragen häufig, wie so etwas überhaupt möglich war, sie können das nicht fassen. Denn wir leben in einer Zeit, in der die Grenze manchmal vorübergehend geschlossen wird – vor ein paar Jahren wegen einer Pandemie – aber eine dicht geschlossene Grenze wie damals ist für die heutigen Schüler unvorstellbar.“