“Fremde Welt, die mir nahesteht“ – Paul-Julien Robert zeigt in Karlsbad Doku über Muehl-Kommune
„Meine keine Familie“ ist eine Filmdokumentation des österreichischen Regisseurs Paul-Julien Robert. Er geht darin auf eine Reise in seine eigene Vergangenheit. In den 70er Jahren wuchs er auf in der größten Kommune in Europa, die vom Wiener Aktionisten Otto Muehl gegründet wurde. Gemeinschaftseigentum, freie Sexualität, Auflösung der Kleinfamilie - das waren die Grundprinzipien der Kommune. Der Regisseur präsentiert seinen Dokumentarfilm im Doku-Wettbewerb des Filmfestivals in Karlsbad.
„Es ist eigentlich eine Reise in meine eigene Vergangenheit. Ich gehe von einem sehr umfangreichen Archivmaterial aus. Ich bin in einer Kommune aufgewachsen, und da wurden die ersten zehn Jahre meines Lebens täglich dokumentiert. Natürlich nicht nur meines Lebens, sondern dieser ganzen Gruppe; das waren 500 Leute, die da gelebt haben. Ich habe mich mit diesem Archivmaterial auseinandergesetzt und dann mehr und mehr auch meine Mutter mit einzelnen Ereignissen und Erinnerungen konfrontiert.“
Haben Sie von Anfang an gewusst, dass dieses reichhaltige Archivmaterial existiert und dass sie ihren Film darauf aufbauen werden?„Ich wusste von diesem Archivmaterial, es ist allerdings geschlossen, das heißt, ich wusste nicht, inwiefern ich es überhaupt bekommen würde. Wir haben den Film auch nicht um das Archivmaterial herum gebaut, sondern dieses im Endeffekt unterschiedlich eingesetzt. Als ich das Archivmaterial dann bekam, haben wir sein Potential erkannt und versucht, es dementsprechend zu nutzen.“
Was war Ihre Motivation für den Film: ihr persönliches Bedürfnis, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, oder wollten Sie ein unabhängiges Dokument schaffen?„Ich habe gespürt, dass gerade in Österreich – denn es ist schon auch eine österreichische Geschichte – die Menschen zwar das Kommunenexperiment kennen, aber nicht wissen, was da eigentlich passiert ist. Da besteht eine riesengroße Neugier, mehr darüber zu erfahren. Und so habe ich versucht, über meine Geschichte zu vermitteln, was da passiert ist, wie das da abgelaufen ist und wie es sich entwickelt hat. Ich selbst habe ebenfalls eine Neugier verspürt, mich mit den Menschen, die mir damals nahe waren, oder mit meinen Eltern auseinanderzusetzen und sie mit diesen Ereignissen zu konfrontieren.“
War es für Sie schwierig, Ihr eigenes Privatleben öffentlich zu präsentieren?„Nein, überhaupt nicht. Es ist ja nicht wirklich mein Privatleben, sondern das Leben meiner Kindheit. Da hat mit meinem Leben jetzt nichts mehr zu tun, weil diese Welt ja nicht mehr existiert. Das heißt, es war für mich genauso ein Blick in eine fremde Welt, die mir zwar sehr nahe steht, mit der ich aber in gewissem Sinne nichts mehr zu tun habe, da dieses System zerbrochen ist.“
Empfinden Sie es als einen Vorteil, wenn sich Kunstwerke oder Filmdokumentationen auf Autobiografien stützen?
„Ich glaube, Kunst kommt immer irgendwie von innen und von einem selbst. Das hat immer etwas Autobiografisches, man baut da immer seine Fantasien, Gedanken oder seine Geschichte mit ein. Kunst im Allgemeinen ist etwas sehr Persönliches und Privates. Wenn ich ein Bild male, ist das auch etwas, das aus mir herauskommt und mit dem ich ein Bild von mir zeige, in dem ich mich auch betrachtet fühle. Das geht mir tatsächlich so: Wenn ich Fotos an die Wand hänge, fühle ich mich genauso betrachtet, wie wenn ich einen Film über mich mache.“Die Hauptfigur des Filmes ist Ihre Mutter, mit der Sie über die Vergangenheit sprechen. Haben Sie auch schon vor dem Film mit ihr darüber gesprochen?
„Nicht in dieser Konzentration und nicht in diesem Umfang. Die Kamera war eine große Hilfe, um sie mit Themen zu konfrontieren, die ich sonst sicher nie angesprochen hätte, weil der Rahmen dafür gefehlt hat. Ich habe nicht das Bedürfnis, ihr vorwurfsvoll zu begegnen, sondern es war eine echte Neugier. Und ich glaube, diese Neugier bestand auch ihrerseits: wie das für mich war, was ich da erlebt habe, weil wir ja damals nicht zusammengelebt haben.“War es für Ihre Mutter schwierig, offen zu sprechen?
„Nein, überhaupt nicht, und das ist etwas, das ich von Anfang an wusste oder gespürt habe, auch von meinem Vater. Meine Eltern haben sich ja in der Kommune zehn oder fünfzehn Jahre intensiv mit dem eigenen Elternhaus auseinandergesetzt, das war immer ein riesengroßes Thema für sie. Dadurch konnte ich über alles offen sprechen.“Wie hat sich Ihr Blick auf das damalige Leben in der Kommune durch den Film verändert? Was bleibt Ihnen in Erinnerung?
„Ich war überrascht, wie klar meine Erinnerung war. Als ich das Archivmaterial gesehen habe, war es eigentlich genau das, was ich in Erinnerung hatte; es ist kein anderes Bild, das da gezeigt wird. Von daher hat sich der Blick darauf nicht verändert. Was allerdings schon viel verändert hat, ist Stellung zu beziehen und zu sagen: ‚Das ist jetzt mein Sichtpunkt, und ich stehe zu diesem Sichtpunkt und gehe damit an die Öffentlichkeit’. Das ist natürlich eine ganze andere Auseinandersetzung mit dem Thema.“Das Bild dieser Kommune ist heute eher negativ - durch das, was später dabei herausgekommen ist. 1991 wurde Otto Muehl wegen einer Reihe von Sittlichkeitsdelikten, allen voran Unzucht mit Unmündungen, zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wie ist Ihr Fazit?„Die Idee einer Kommune ist auf jeden Fall gescheitert und war auch im Vorhinein zum Scheitern verurteilt. Für mich ist es eher ein Wunder, dass die Kommune so lange existiert hat. Schon relativ früh ging vieles schief und entwickelte sich in eine Richtung, die im Endeffekt ziemlich autoritär, paranoid und wahnsinnig war. Doch natürlich ist es ein Teil meines Lebens und wird immer ein Teil meines Lebens bleiben. Ich glaube, die Kindheit ist vielleicht sogar die Hälfte des Lebens, die Auseinandersetzung damit. Ich sehe natürlich auch vieles negativ. Doch ich nehme es an und versuche, das Beste daraus zu machen. Zugleich habe ich dort aber auch Erfahrungen gemacht, die mein Leben bereichern.“
Sie haben gesagt, dass es von Anfang an zum Misserfolg verurteilt war. Glauben Sie, dass vielleicht eine weniger autoritäre Variante eine Zukunft haben könnte?„Dass Leute das Bedürfnis haben, zusammenzuleben, sich auszutauschen, vielleicht auch die freie Liebe zu leben – ja, sicher, aber das muss immer lebendig bleiben. Es sollte immer um die Bedürfnisse der Menschen gehen und nicht um eine Ideologie, die über diesen Bedürfnissen steht. Ich glaube, damals war es so ein Phänomen, dass die Menschen sehr größenwahnsinnig waren. Sie dachten, sie würden alles besser machen und haben ihre Vergangenheit geleugnet. Die Aufmerksamkeit dafür, was wirklich passiert und abläuft, ist dabei total verloren gegangen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der auch wahnsinnig viel schief geht, und ich weiß nicht, wie das weitergeht. Vielleicht wird irgendwann auch diese Gesellschaft kaputtgehen. Ich hoffe sogar, dass da irgendwie ein Bruch stattfinden wird. Vielleicht gibt es auch noch andere Möglichkeiten.“
In welche Richtung könnte dies gehen?„Diese Revolution ist etwas, was heute nicht mehr in dem Sinne funktioniert. Es geht da vielleicht eher um eine andere Art, Kinder zu erziehen oder ein anderes Weltbild oder andere Werte zu schaffen.“
Haben Sie während der Dreharbeiten die Antwort darauf gefunden, warum sich damals 500 Menschen der Kommune angeschlossen haben?
„Diese Antwort habe ich nicht gesucht. Ich habe eigentlich von Anfang an verstanden, warum es dieses Bedürfnis damals gegeben hat. Meine Eltern und die anderen haben auch einen großen Mut gehabt, diesen Schritt zu tätigen und sich das nicht nur theoretisch auszudenken, sondern wirklich etwas ganz Neues zu probieren. Das finde ich schon schön. Diese Aufbruchsstimmung war sicher etwas sehr Anziehendes und eine Dynamik, die viele Menschen fasziniert hat.“
Die Muehl-Kommune ist in Österreich ein bekanntes Thema. Sie haben den Film jetzt vor einem internationalen Publikum gezeigt: Gibt es Unterschiede in der Rezeption und Reaktion des Publikums in Österreich und im Ausland?„In Österreich befindet sich in den Köpfen der Menschen natürlich bereits ein Bild der Kommune. Dieses wird vielleicht dann bestätigt oder auch nicht. Von daher gibt es viele Auseinandersetzungen. Aber was die Fragen und die Faszination angeht, ist es hier sehr ähnlich. Diese Kommune ist ja wie ein Mikrokosmos. Er steht für mich für ganz andere Machstrukturen, Systeme und Gesellschaften, da bestehen viele Parallelen. Auch das Thema der Familie und der Verantwortung ist etwas, das die Leute berührt, weil dazu jeder seine eigene Geschichte hat. Der Film war daher ein Versuch, nicht nur eine Dokumentation über speziell diese Kommune zu drehen, in der ich gelebt habe.“
Sie zeigen jetzt Ihren Film beim Filmfestival in Karlsbad. Sind Sie zum ersten Mal hier?„Ja, das ist mein erster Besuch in Karlsbad. Und es war natürlich auch eine sehr erfreuliche Überraschung, dass wir hierher eingeladen wurden.“
Inwieweit ist es für einen deutschen Film wichtig, bei einem Festival dabei zu sein, dass als ein Festival zwischen Ost und West gilt?
„Ich fand das für mich total spannend, weil die Kommune ja im selben Jahr zerfallen ist wie der Ostblock. In Wien sind viele Zuschauer, die in Russland oder woanders gelebt haben, gekommen und haben gesagt, dass sie zwischen der Kommune und ihrem eigenen Leben durchaus Parallelen sehen. Jeder hat dabei natürlich seine eigene Geschichte, aber deswegen war ich sehr froh, den Film auch hier zu zeigen. Ich habe bis jetzt aber noch nicht so einen starken Austausch gehabt. Das Publikumsgespräch war zwar sehr spannend, aber in der halben Stunde kann man nur auf drei, vier Fragen eingehen. Sehr gefreut hat mich, dass das Publikum hier sehr jung ist im Vergleich zu Österreich. Da kamen am Anfang vor allem ältere Leute, die die Kommune noch irgendwie kannten. Hier ist das Publikum viel jünger und dadurch anders interessiert, mit einem anderen Zugang.“