Geiseldrama am Eisernen Vorhang

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Vor 40 Jahren kam es in Westböhmen zu einer dramatischen Busentführung. Sie endete in einem Blutvergießen, das vielleicht hätte verhindert werden können. Bis heute ist die Schuld daran nicht geklärt.

Ivo Pejčoch  (Foto: Luboš Vedral,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Es ist der 23. Mai 1978. Gegen 19 Uhr hält am Campingplatz beim Stausee nahe Cheb / Eger in Westöhmen ein Bus mit Gymnasiasten aus Říčany bei Prag. Zwei Lehrer steigen aus, um die Ankunft bei der Rezeption zu melden. Die Schüler und Schülerinnen bleiben im Fahrzeug sitzen. In diesem Moment springen drei bewaffnete Männer in den Bus und zwingen den Fahrer loszufahren. Sie wollen zum nahegelegenen Grenzübergang Pomezí / Mühlbach zwischen der damaligen Tschechoslowakei und Westdeutschland. Es beginnt ein mehrstündiges Drama, das mit zwei erschossenen Menschen und mehreren Verletzten endet. Ivo Pejčoch ist Historiker am Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag:

„Während der Fahrt zum Grenzübergang ließen die Entführer den Bus an einer Tankstelle anhalten. Einer der Schüler wurde zur Kassiererin geschickt. Diese sollte der Polizei dazu auffordern, dem Bus freie Fahrt nach Westdeutschland zu ermöglichen, andernfalls würden die Geiseln erschossen. Am Zollamt in Pomezí musste der Bus aber vor der ersten Schranke anhalten. Um zu zeigen, dass sie es ernst meinten, schossen die Entführer aus dem Bus in die Luft, wobei jedoch ein Mädchen am Bein verletzt wurde. Dieses durfte dann unter Begleitung einer Freundin aussteigen.“

Grenzübergang in Pomezí  (Foto: ABS)
Zur Erklärung: Die Grenzübergänge im Eisernen Vorhang nach Westdeutschland und Österreich hatten insgesamt drei Schranken. Die erste war vorgelagert, die zweite vor der Pass- und die dritte vor der Zollkontrolle. Die Schranken waren so massiv, dass kein gängiges Fahrzeug sie durchbrechen konnte. Der Übergang in Pomezí befand sich zudem etwa ein Kilometer vor der Staatsgrenze, dahinter gab es noch zwei Kontrollposten der Grenzwache.

Soldaten bringen sich in Stellung

Nachdem der entführte Bus an die Schranke gelangt war, begann die komplizierte Verhandlung mit der tschechoslowakischen Armee. Der damalige Oberbefehlshaber der Grenzwache, František Šádek, sagte 2001 im Tschechischen Fernsehen:

Jan Novák  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Ich meldete mich dafür, persönlich mit den Entführern zu verhandeln. Als ich sie aufforderte, den Bus zur zweiten Schranke an der Passkontrolle zu fahren und dort die Kinder freizulassen, haben sie mich grob beschimpft. Ich sagte, dass ich ohne Waffe zu ihnen käme, wenn den Kindern nichts passiere.“

In der Zwischenzeit brachten sich mehrere Dutzend bewaffnete Soldaten in Stellung, und die Zufahrtswege zum Grenzübergang wurden gesperrt. Die kommunistische Führung des Landes wollte die Entführer um keinen Preis über die Grenze lassen. Doch für die Geiseln spitzte sich die Lage zu, es mangelte an Wasser, und einige Mädchen wurden beinahe ohnmächtig. Nach drei Stunden stimmte die Grenzwache einer Vereinbarung zu.

„Beim Zollamt sollten die Schüler freigelassen werden, und nur der Busfahrer sollte als Geisel in den Händen der Entführer bleiben. Die Jugendlichen durften tatsächlich aussteigen, und der Fahrer, der 26-jährige Jan Novák, der zu Hause zwei kleine Kinder hatte, startete den Motor. Die Entführer lächelten, und einer von ihnen winkte sogar den Soldaten zu. Sie hatten offensichtlich keine Ahnung, dass hinter dem Zollamt noch nicht Deutschland war. Die Soldaten hatten aber nur einige Meter weiter eine Nagel-Falle über die Straße gelegt. Und den Rückweg versperrte man mit einem Panzerfahrzeug. Die Entführer saßen also fest. Und nun brach eine Schießerei los, zu der es zwei unterschiedliche Versionen gibt“, so Historiker Pejčoch.

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Die Soldaten gaben bei der Untersuchung zu Protokoll, sie wollen im Bus etwas aufblitzen gesehen haben. Das interpretierten sie als Schüsse. Daher griffen sie zu den Waffen. Der einzige heute noch lebende Zeitzeuge aus dem Bus, der Entführer Václav Bareš, behauptet, die Grenzwärter hätten als erste das Feuer eröffnet. Jedenfalls wurde der Bus binnen weniger Minuten total zersiebt, weder Blech noch Fenster blieben heil.

Tod im Kugelhagel

Im Kugelhagel kamen der Busfahrer ums Leben und einer der Entführer. Die weiteren zwei erlitten Verletzungen und wurden später vor Gericht gestellt. Robert Bareš wurde zu Tode verurteilt und im Dezember 1978 hingerichtet. Sein Cousin Václav Bareš bekam 25 Jahre Haft, er wurde 1992 freigelassen. Zu ihren Personen sagt Ivo Pejčoch:

Václav Bareš  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Sie kamen aus einem problematischen Umfeld. Milan Bareš, der bei der Schießerei uns Leben kam, war mehrmals bereits wegen krimineller Taten im Gefängnis gesessen. Am Tag der Entführung sollte er wieder in Haft kommen. Um sich dem zu entziehen, zettelte er mit seinen Cousins die Entführung an. Die drei Männer hätten nach Westdeutschland fliehen wollen, behauptete die Anklage. Zunächst stiegen sie in ein Forsthaus im mittelböhmischen Řevničov ein und stahlen Jagdwaffen und Munition. Dann fuhren sie mit einem Pkw zum Stausee bei Cheb und warteten auf einen passenden Bus, um ihn zu entführen.“

Obwohl der Hintergrund eine kriminelle Tat war, die eigentlich nichts mit Politik zu tun hatte, wurde der Fall nach der politischen Wende neu aufgerollt. 1992 sollte ein Gericht ermitteln, ob der Busfahrer von den Entführern oder von den Grenzsoldaten erschossen wurde. Beim Prozess in den 1970er Jahren waren natürlich die Entführer schuldig gesprochen worden, viele Tatsachen sprachen aber dagegen. Die Witwe des Busfahrers Jan Novák sagte 1992 in einer Fernseh-Doku zu dem Fall:

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„Ich habe das Gefühl, dass die Grenzsoldaten meinen Mann einfach geopfert haben. Ein Menschenleben bedeutete nichts für sie, zumindest im Vergleich mit einem Bus voller Schüler. Sie entschieden sich, den Bus um jeden Preis aufzuhalten, und das taten sie auch. Dass die Entführer meinen Mann erschossen haben sollen, halte ich nicht für logisch. Warum hätten sie den einzigen Menschen töten sollen, der in der Lage war, sie über die Grenze zu bringen? Keiner von ihnen konnte einen Bus fahren.“

Das Gericht verhörte Anfang der 1990er Jahre mehrere Zeitzeugen. Eine abschließende Antwort wurde aber nicht gefunden. In den Gerichtsunterlagen stieß man auf viele Widersprüche, die dafür sprachen, dass die kommunistische Justiz den Fall damals schnell abschließen und propagandistisch ausnutzen wollte. Im Mai geschah die Tat, und bereits im August gab es die Hauptverhandlung. Es sei nicht möglich, innerhalb so kurzer Zeit alle Unterlagen und Beweise in einem so komplizierten Fall zusammenzubekommen, sagte 1992 einer der Juristen gegenüber den Medien.

Grenzübergang in Pomezí  (Foto: ABS)
2006 gab es einen weiteren Versuch, Licht in die Sache zu bringen. Fünf Grenzsoldaten, unter ihnen der Oberbefehlshaber František Šádek, sollten vor Gericht die Umstände des Eingriffes erläutern. Damalige Vorschriften untersagten nämlich den bewaffneten Kräften, auf ein Objekt mit Geiseln zu schießen. Zur Gerichtsverhandlung kam es aber nicht, der Richter erklärte die Sache für verjährt.

Alle Busentführungen scheitern

Die Busentführung von 1978 war nicht die einzige in der kommunistischen Tschechoslowakei.

Foto: ČT24
„Die erste ereignete sich im Juli 1971 in Bratislava. Der Täter nahm damals nur den Fahrer als Geisel. Dem gelang es aber, während der Fahrt aus dem Bus zu springen. Der Entführer fuhr dann auf die Schranke am Grenzübergang auf, wurde verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. 1977 entführte ein bewaffneter Soldat einen Bus voller weiterer Soldaten. Aus der Ostslowakei wollte er bis zur österreichischen Grenze gelangen, das sind mehrere Hundert Kilometer. Doch die Fahrt wurde ziemlich bald gestoppt. Obwohl er keinen Schuss abgab und sich stellte, kam er für 13 Jahre hinter Gitter“, so Ivo Pejčoch.

Ein tragikomischer Versuch spielte sich 1982 erneut in Bratislava ab. Zwei desertierte Soldaten kauften sich im Spielzeugladen Plastikpistolen und kaperten damit einen Nachtlinienbus ohne Fahrgäste. Auch in diesem Fall konnte der Fahrer die Türen öffnen und entkommen. Die zwei Soldaten fuhren dann auf eine Straßensperre und wanderten ebenfalls ins Gefängnis. Keiner der Busentführer ist also jemals über die Staatsgrenze gelangt.