Geruchsache
Eine große Stadt wie Prag ist nicht nur kulturell vielfältig, sie beherbergt auch alle möglichen und unmöglichen Gerüche. Manchmal angenehme, manchmal grässliche. Dazu die folgende Glosse von Alexander Schneller.
Ich hatte schon immer eine ziemlich gute Nase. Und sie hat mich selten getäuscht, sondern meistens zielsicher geführt. Sie hat genau die richtige Länge, ist aber nicht zu groß. Sie ist in der Regel ganz unbestechlich, und ich stecke sie selten in Dinge, die mich nichts angehen. Die Rede ist natürlich von meiner Nase. Schon von klein auf habe ich mir die Welt, außer mit Augen und Ohren und Händen, mit der Nase erschlossen. Ich trete in einen Raum, und in Sekundenschnelle ist es entschieden: angenehm oder unangenehm. Die (manchmal) obligaten zwei oder drei Küsschen auf die Wangen, links-rechts-links, und schon weiß ich: Sekt oder Selters, schon ist klar, ob ich mein Gegenüber riechen kann. Zwar denkt man manchmal nicht über die Nasenspitze hinaus, aber die Umgebung durch die Nase wahr-nehmen, das gelingt allemal. Noch heute stecke ich in jedes neue Buch, in jede druckfrische Zeitschrift meine Nase, schnuppere diesen sinnlichen Duft, eigne ich mir das Parfüm eines Druckerzeugnisses an. Schon dies ein weiteres Argument für das Buch und gegen die Diskette oder die CD-ROM, die geruchlos oder allenfalls undefinierbar ist. Und Hand aufs Herz: als kleiner Junge habe ich oft am Nagellackentferner meiner Mutter oder am Leimstift meines Vaters geschnüffelt. Noch heute erinnere ich mich an weit zurück liegende Ereignisse oft aufgrund von Gerüchen. Der Duft, Geruch oder Gestank beschwört quasi mir nichts dir nichts eine vergangene Situation, ein Gefühl, einen Ort auch herauf. Nun soll aber nicht in erster Linie von meiner Nase die Rede sein, wohl aber von Gerüchen, Düften und Gestänken, genauer: von den geruchlichen Reizen und Reizungen einer Großstadt. Was ist schon der liebliche Duft einer verträumten Bergwiese gegen die umwerfende Vielfalt großstädtischer Geruchsstoffe. Eine grosse Stadt wie Prag ist auch eine Stadt der 1001 Gerüche. Und da manche Tschechinnen und (vor allem) Tschechen die Segnungen moderner Deos noch nicht entdeckt haben, ist z.B. eine Fahrt mit der Straßenbahn an einem heißen Sommertag ein geruchliches Abenteuer der ganz besonderen Art. Manchmal stockt einem wortwörtlich der Atem oder man steigt bei der nächsten Haltestelle hechtend aus... Typische Prager Gerüche sind vielfältig. Von den Gärten her weht, zumal im Frühling, der Fliederduft, im U-Bahnschacht der Linie A herrscht ein permanenter Latrinengestank, jetzt im Winter liegt ein manchmal beißender Kohlegeruch in der Luft, Benzin- und Dieselgestank vermischt sich mit allen möglichen Parfümdüften. Auch Schweiß, schmutzige Unterwäsche, ebensolche Füße sowie Stress, Feuchtigkeit, Urin, Moder und Keller hinterlassen ihre geruchlichen Spuren. Nicht zu vergessen die Düfte nach Bratwürsten und Hamburgern oder Schnaps und Fusel. Das alles ergibt eine nicht selten faszinierende Mischung, ein einzigartiges Odorium, und für meine Nase ist Prag ein herrlicher Tummelplatz oder, wie man heute sagen würde: eine echte Herausforderung. So bleibt mir am Schluss nur begeistert auszurufen: O du mein Prag, Hauptstadt der geruchlichen Sensationen, gepriesen und erschnüffelt seist du!