Mit Architekt Ditrich unterwegs auf den Prager Gottesäckern: „Ein Friedhof ist ein Park mit Mehrwert“

Friedhof in Olšany

Es klingt ein wenig morbide, ist aber eigentlich logisch: In Prag gibt es mehr Tote als Lebende. Auf dem Gebiet der Stadt, die knapp 1,4 Millionen Einwohner hat, sind mehr als 2,5 Millionen Menschen begraben. Über 60 Friedhöfe lassen sich hier finden, und diese sind schon lange nicht mehr nur Orte zum Trauern. Die berühmtesten gelten als architektonische Perlen, und viele Areale werden von der Bevölkerung als Parks genutzt.

Filip Ditrich ist Architekt mit einem besonderen Interesse für Friedhofsanlagen. An ihnen ließen sich die architektonischen Trends und Ideen der einzelnen Epochen erkennen, erläutert der 54-Jährige im Interview mit Radio Prag International:

Filip Ditrich | Foto:  Barbora Navrátilová,  Radio Prague International

„Friedhöfe sind so etwas wie die Welt im Kleinen. Viele berühmte Architekten haben ihre berufliche Laufbahn eben auf Friedhöfen begonnen. Grüfte waren häufige Auftragsarbeiten, die oft von sehr bekannten Persönlichkeiten kamen. Wenn die Architekten sich bewährten und mit dem Auftraggeber einen gemeinsamen Weg fanden, dann durften sie für ihn auch andere Gebäude entwerfen.“

Einige der Gottesäcker in Prag dienen heute vor allem als Sehenswürdigkeiten und gar nicht mehr ihrer eigentlichen Funktion. Ditrich nennt als prominentes Beispiel den Kleinseitener Friedhof. Ähnlich wie die wohl berühmteste Anlage, der Olšany-Friedhof, liegt er im weiteren Zentrum der Stadt. Das war bei ihrer Entstehung allerdings noch anders. Die Begräbnisstätten wurden einst außerhalb der Stadtmauern angelegt – vor allem wenn es sich, wie im Falle von Olšany, um einen Pestfriedhof handelte. Heute sei dieser größte Friedhof Prags auch aus architektonischer Perspektive interessant, so Ditrich:

Kleinseitener Friedhof | Foto: Štěpánka Budková,  Radio Prague International

„Ich würde vorrangig das Lanna-Grab nennen. Das ist ein riesiger Bau, der die Gruften der Familien Lanna und Schebek beherbergt. Es ist also ein Doppelgrab. Seine Größe ist in Mitteleuropa einzigartig. In Sachen Architektur findet sich in Olšany außerdem die in der Öffentlichkeit wenig bekannte Gruft der Ritterfamilie von Albert. Sie ist ein Werk des Architekten František Maria Černý, den die meisten von uns als Autor des Turms am Emmauskloster kennen.“

Nicht zuletzt habe es auf dem Olšany-Friedhof das erste Krematorium Prags gegeben, ergänzt der Experte. Die dortige Kapelle wurde 1921 nach einem entsprechenden Umbau als Einäscherungsstätte eingeweiht. Heute dient sie erneut ihrem eigentlichen Zweck.

Gruft der Familien Lanna und Schebek | Foto: Hana Slavická,  Radio Prague International

Fast vergessener deutscher Friedhof

Slavín | Foto: Petr Lukeš,  Radio Prague International

Der Prager Friedhof, auf dem die meisten berühmten Persönlichkeiten begraben sind, ist neben der Kirche auf dem Vyšehrad zu finden. Die Schriftsteller Božena Němcová und Karel Čapek liegen hier, ebenso die Komponisten Bedřich Smetana und Antonín Dvořák, Opernsängerin Ema Destinnová und Maler Alfons Mucha sowie die Architekten Josef Gočár und Jan Kaplický. Zentrum der Anlage ist die ansehnliche Slavín-Gruft, und auch den unzähligen Statuen gilt das Interesse der Besucher. Welche Anlage in der Stadt ist aber Ditrichs Favorit?

„Persönlich mag ich am meisten einen fast vergessenen Friedhof, der eigentlich schon abgerissen werden sollte. Zum Glück ist es dazu aber nicht gekommen. Es handelt sich um den ursprünglich deutschen evangelischen Friedhof in Strašnice, gegenüber dem Krematorium. Er hat eine bewegte Geschichte, wobei die Betonung auf der Bezeichnung deutsch liegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er offiziell geschlossen, und man erwog, ihn einzuebnen. Zum Glück kam später die Samtene Revolution, und der Friedhof wurde unter Denkmalschutz gestellt. Er gelangte in die Verwaltung der Prager Bestattungsdienste, und 2015 begann seine Sanierung. Den Ort empfehle ich sehr. Kaum jemand kennt ihn, und das ist schade.“

Deutscher evangelischer Friedhof in Strašnice | Foto: Barbora Linková,  Tschechischer Rundfunk

Den historischen Baubestand der Anlage bildeten zahlreiche Gräber aus dem 19. und 20. Jahrhundert, fährt der Architekt fort. Mittlerweile werden vor Ort auch wieder Bestattungen durchgeführt. Dazu wurde der Friedhof um einen Urnenhain und eine Aschestreuwiese ergänzt. Und im ehemaligen Totengräberhaus ist heute ein sogenanntes Bestattungsatelier eingerichtet, in dem auch weniger traditionelle Zeremonien stattfinden können.

Der genannte Friedhof verweist auf eine wichtige Komponente der Stadtgeschichte. Bis zum Zweiten Weltkrieg bildeten Deutsche einen bedeutenden Teil der Prager Bevölkerung. Ihre Bestattungsrituale seien aber kaum anders gewesen als die der tschechischen Mitbürger, betont Ditrich:

Deutscher evangelischer Friedhof in Strašnice | Foto: Barbora Linková,  Tschechischer Rundfunk

„Dadurch, dass es sich um eine gemeinsame kulturelle Blase handelte, gab es keine markanten Unterschiede. Eine Sache fällt aber auf, was deutsche Gräber betrifft. Oft sind sie in Gruppen angelegt und von einem Gitter umgeben. Dies ist zum Beispiel auf dem genannten evangelischen Friedhof zu sehen. Und auch auf den alten deutschen Friedhöfen in den früheren Sudetengebieten ist dies sehr üblich.“

Gerade die Spuren der länger zurückliegenden Geschichte sind es oft, die Friedhöfe so interessant für viele Besucher machen. Das gilt ganz besonders für jüdische Anlagen. Ein Touristenmagnet in Prag ist das Grab Franz Kafkas auf dem Neuen Jüdischen Friedhof, der zum Olšany-Areal gehört. Aber vor allem der Alte Friedhof im Stadtteil Josefov biete eine geheimnisvolle Atmosphäre, findet Ditrich:

Franz Kafkas Grab in Prag | Foto: Juan Pablo Bertazza,  Radio Prague International

„Es gibt sicher eine Magie der hebräischen Grabinschriften und auch der gewissermaßen anderen Form der Grabsteine. Diese wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings ziemlich angepasst. Denn die gleichen Architekten, die für die städtischen Friedhöfe arbeiteten, entwarfen auch Grabsteine für die jüdische Gemeinde. Es besteht heute auf jeden Fall ein Interesse an der jüdischen Kultur, und dies wird sicher weiter wachsen. Und die Friedhöfe sind ein untrennbarer Teil dessen. Wenn man über Prag hinaus blickt, dann sind sie oft das einzige, was von der dortigen jüdischen Gemeinde übriggeblieben ist.“

Gerade jüdische Grabplatten, aber auch historische Stücke der christlichen Kultur, geben oft wertvolle Auskünfte über den Verstorbenen. Da sind nicht nur Name und Lebensdaten zu finden, sondern etwa auch der Beruf, gesellschaftliche Verdienste oder eine moralische Botschaft. Auf vielen modernen Grabsteinen steht heute hingegen nur noch der Familienname. Dies könnte mitunter rein finanzielle Gründe haben, vermutet Ditrich, da Aufschriften ja auch etwas kosteten. Er verweist in dieser Frage aber ebenso auf neue Bestattungsformen, bei denen die Asche einfach über eine Wiese verstreut werde und nicht einmal unbedingt ein Schild an den Verstorbenen erinnert. Und weiter erläutert der Experte:

Alter jüdischer Friedhof in Prag | Foto: Juan Pablo Bertazza,  Radio Prague International

„Es ist überhaupt interessant, junge Menschen von 20 oder 30 Jahren zu fragen, ob sie eine Vorstellung davon haben, wie sie beerdigt werden wollen. Meistens werden sie von dieser Frage überrascht, aber manche beginnen dann, darüber nachzudenken. Ich denke, der Trend geht eher zur Anonymität, als dass wieder große Gruften gebaut werden. Dies hängt jedoch immer vom kulturellen Umfeld ab. Für Katholiken oder etwa Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion sind die neuen Formen gänzlich inakzeptabel, und sie werden die klassischen Bestattungsarten auch künftig weitertragen.“

Geist der alten Zeit

Ob historisch oder modern – Friedhöfe werden also von vielen Menschen gern besucht, ohne dass sie konkret jemanden betrauern, der dort begraben ist. Und dafür gibt es laut Filip Ditrich unterschiedliche Gründe…

Grab von Bedřich Smetana | Foto: Petr Lukeš,  Radio Prague International

„Ich glaube, dass viele Menschen auf den Friedhöfen – euphemistisch gesprochen – die guten alten Zeiten suchen. Für sie sind dies Orte, an denen die Zeit stehengeblieben ist und die mit einem Gefühl der Romantik verbunden sind. Es sind Oasen der Ruhe, und dies im Falle von Prag eben auch mitten in der Stadt. Wenn mich jemand nach der Definition eines Friedhofs fragt, dann sage ich immer, es sei ein Park mit einem Mehrwert. Denn in der städtischen Struktur funktionieren diese Orte wie Parks. Und als solche werden sie auch im Flächennutzungsplan aufgefasst.“

Dem entspreche die Art, wie Menschen die Friedhöfe zunehmend nutzten, führt der Architekt aus. Die Leute würden hier joggen gehen, Kinderwagen spazieren fahren oder sich zum Lernen zurückziehen. Dies, wirft Ditrich ein, könne allerdings für konservativ eingestellte Besucher schon die Grenze dessen überschreiten, wozu ein Friedhof eigentlich da sei.

Friedhof an der Stadtgrenze von Prag in Zbraslav | Foto: Hana Slavická,  Radio Prague International

Bei so manchem neueren Areal scheint aber die Funktion als Touristenziel bewusst ins Konzept mit aufgenommen worden zu sein. Ditrich gibt einen Tipp und schickt den Besucher bis an die Stadtgrenze von Prag, nämlich nach Zbraslav:

„Dort entstand 1961 etwas Einmaliges und der erste Friedhof seiner Art in ganz Europa. Von überall kamen Menschen hierher, um sich den Ort anzuschauen. Der Architekt Hynek Svoboda ist der breiten Öffentlichkeit nicht unbedingt bekannt, weil er vor allem in Zbraslav aktiv war. Er legte auf dem Hügel Havlín – neben dem ursprünglichen Friedhof – einen Urnenhain an, der ganz anders ist als alle anderen. Es gibt dort keine klassischen Gräber und kein Kolumbarium, bestattet wird hier unter einem Stein oder einer Platte. Dieses Konzept beruht auf einem besonderen Landschaftsentwurf, der teilweise an einen japanischen Garten erinnert. So wurde etwa festgeschrieben, welche Pflanzensorten im Umfeld der Grabplatten benutzt werden dürfen.“

Und vom Süden gehen wir noch ganz in den Norden: Auf der anderen Seite der Stadt liegt der zweitgrößte Friedhof Prags, der bei einem Spaziergang natürlich auch nicht fehlen darf. Das Areal im Stadtteil Ďáblice ist berühmt für seine kubistische Architektur. Auffällig sind die Außenmauer und das Haupttor mit den beiden Pavillons. Der ursprüngliche Entwurf von Vlastislav Hofman habe noch einige kubistische Objekte mehr vorgesehen, berichtet Ditrich. Wegen der beiden Weltkriege seien sie jedoch nicht mehr umgesetzt worden.

Auch in Ďáblice kann man bereits Beispiele für moderne und ökologische Bestattungsmethoden finden. Und das gelte nicht nur für eingeäscherte sterbliche Überreste, sagt Ditrich:

Erinnerungswald auf dem Friedhof in Ďáblice | Foto: Ondřej Novák,  Tschechischer Rundfunk

„Neben einem sogenannten ‚Wald der Erinnerungen‘ gibt es etwa einen Wiesenfriedhof. Dort werden Leichname unter der Grasfläche bestattet. Dabei ist nicht erkennbar, dass dort Menschen begraben sind. Es ist einfach eine Wiese, die regelmäßig gemäht wird und eigentlich immer gleich aussieht. Solche Friedhöfe gibt es nicht nur in Prag, sondern auch in Brünn oder anderen tschechischen Städten.“

Und wie geht es bezüglich moderner Bestattungstraditionen weiter? Wird es in Prag, so wie etwa auf dem Zentralfriedhof in Wien, einen konfessionsübergreifenden Friedhof geben, auf dem Christen, Juden, Buddhisten und Muslime nebeneinander begraben werden? Konkrete Pläne gebe es dazu noch nicht, antwortet der Experte. Aber:

„Als kosmopolitisch kann man jenen Teil des Olšany-Friedhofs verstehen, der rund um die Kapelle der Aufnahme Mariens in den Himmel und gleich neben der jüdischen Anlage liegt. Dort sind Menschen aus Russland, der Ukraine und dem weiteren Umfeld begraben. Dies begann vor vielen Jahren, als an dem Ort erstmals Mitglieder der russischen Emigration bestattet wurden. Die Kapelle dient seitdem als orthodoxe Kirche, und diese Tradition wird dort weitergeführt. Darüber hinaus gibt es aber durchaus Bemühungen, einen kosmopolitischen Friedhof in Prag anzulegen. Sowohl Buddhisten als auch Muslime machen sich dafür stark. In unserer Gesellschaft ist dies jedoch ein dorniger Weg. Ich persönlich glaube, dass es richtig wäre.“

Foto: Lucie Suchánková Hochmanová,  Tschechischer Rundfunk