Geschichte des tschechischen Volkslieds (Teil 1): von den ältesten Nachweisen bis ins 19. Jahrhundert
An Staatsfeiertagen wie am Tag der Heiligen Kyril und Method, am Jan-Hus-Tag oder am St. Wenzelstag, genauso wie bei weiteren offiziellen Veranstaltungen werden in Tschechien alte geistliche Lieder gesungen. Das geschieht vor allem in Kirchen, aber nicht nur. Nur noch Musikwissenschaftler wissen heute aber wohl noch, dass in manchem dieser Lieder die Melodie eines vielleicht noch älteren Volksliedes versteckt ist. Dabei sind es die ältesten überlieferten Spuren dieses Kulturguts. In einem Zweiteiler berichten wir nun über die Geschichte des tschechischen Volkslieds. Jitka Mládlová hat dazu mit Lubomír Tyllner, Dozent am Ethnologischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag, gesprochen.
Die Volkskultur, darunter auch die Lieder des einfachen Volkes, wurde lange Zeit von Musikwissenschaftlern nicht beachtet oder sogar abgelehnt. Die Fachleute richteten ihre Aufmerksamkeit viel mehr auf die so genannte Hochkultur, und das hieß: auf die so genannte ernste Musik. Zunächst waren dies geistliche Klänge und nachfolgend dann die Entwicklung der klassischen Musik, die man dank der guten Quellenlage weit in die Vergangenheit zurückverfolgen kann. Über die Volksmusik bestehen hingegen nur vereinzelte Informationen, auch weil es an den entsprechenden Partituren fehlt. Dieses Dilemma besteht aber nicht nur in Tschechien, sondern allgemein in Europa. Musikwissenschaftler Lubomír Tyllner von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften:
„Es ist bekannt, dass Kaiser Karl der Große um das Jahr 800 die Anweisung gab, Lieder sammeln zu lassen. Musikforschern zufolge diente das wohl vor allem einem Zweck: Der Kaiser wollte vermutlich epische Heldenlieder aufzeichnen lassen, in denen er selbst besungen wurde. Seriös belegen lässt sich das allerdings nicht. Anders hingegen die ersten geistlichen Lieder, die vom Volk gesungen wurden. Über diese Lieder, die bei kirchlichen Festen erklangen, hat eine Reihe von damaligen Chronisten berichtet. Das liest sich dann etwa so: Als der König Soundso in Prag, dem Zentrum des Königreichs Böhmen eingetroffen war, wurde das Lied soundso angestimmt.“Zu den ältesten tschechischen Liedern, die aus dem Mittelalter bekannt sind, gehört ´Hospodine pomiluj ny´, in dem der Herrgott um Gnade gebeten wird, oder „Svatý Václave“, eine Hymne an den böhmischen Landespatron, den Heiligen Wenzel. Es wird angenommen, dass es in derselben Zeit auch simple Volkssongs, eine Art Gassenhauer gab. Mit diesem Genre hat sich allerdings niemand seriös befasst. Und so mag es heutzutage überraschend sein zu erfahren, dass in alten geistlichen Liedern alte volkstümliche Melodien anklingen.
„Die geistlichen Lieder wurden ja vom Volk gesungen und waren auch für das Volk bestimmt. Beim Gottesdienst dominierte natürlich auch hierzulande der gregorianische Choral. Im Lauf der Zeit jedoch wurden zwischen den einzelnen Teilen des Gottesdienstes immer häufiger musikalische `Einlagen´ in tschechischer Sprache gesungen. Dass diese Einlagen auf volkstümlichen Liedern basiert haben müssen, führen wir darauf zurück, dass die volkstümliche Melodik auch in den vier ältesten geistlichen Liedern, die schon damals auf Tschechisch gesungen wurden, gut nachweisbar ist.“Bei den tschechisch gesungenen Kirchenliedern, die im Mittelalter entstanden, gab es Tyllner zufolge auch einen gewissen deutschen Einfluss:
„Vor allem zwei der vier ältesten tschechischen Kirchenlieder, und zwar ´Buoh všemohúcí´ - auf Deutsch ´Gott der Allmächtige´ - und ´Jezu Kriste ščedrý kněže´ - Jesus Christus, du Großzügiger Priester´ - hatten ihre Pendants im deutschen geistlichen Lied. Ein anderes Beispiel: Im 14. Jahrhundert hat sich der böhmische Kirchenreformator Jan Hus um die Entstehung tschechisch gesungener Kirchenlieder verdient gemacht. Einige hat er offenbar aus dem deutschen Liedgut übernommen.“
Im Mittelalter konnten viele Menschen nicht lesen und schreiben. Noch weniger kannten sie Noten. Da drängt sich die Frage auf: Wie wurde den Menschen beim Gottesdienst beigebracht, auf welche Melodie der jeweilige religiöse Text gesungen werden soll? Musikwissenschaftler Lubomír Tyllner:„Um eine konkrete Melodie anstimmen zu lassen, waren die Kirchenlieder, die im Liederbuch oft nur in Textfassung ohne Noten zu finden waren, jeweils mit einer Anmerkung versehen. Zum Beispiel singen wie: ´Die hübsche Käthe das Gras mähte´. Und das war eben der Titel eines Volkslieds. Die Menschen riefen sich seine Melodie ins Gedächtnis, um darauf den entsprechenden Kirchenliedtext zu singen. Entweder konnte man ihn lesen, oder man kannte den Text auswendig. Im 16. Jahrhundert gab es eine ganze Reihe von Volksliedern, zu deren Melodien eben religiöse Texte gesungen wurden. Es sind also ihre Melodien bekannt, vom Text aber nur die ersten Worte. Die vollständigen Texte dieser Volkslieder sind heute nicht mehr bekannt.“
So entstanden im Mittelalter die ältesten Zeugnisse der Volkslieder hierzulande. Doch die weitere Entwicklung war geprägt von den turbulenten Zeiten nach der Verbrennung von Kirchenreformator Jan Hus 1415 in Konstanz. Es kam zur hussitischen Revolution. Und die Hussiten lehnten geistliche Lieder, obwohl sie auch volkstümlich geprägt waren, zum Teil ab:„Die radikalen Hussiten haben diese Lieder zunächst aus dem Gottesdienst verdrängt. Nach einiger Zeit schwächte sich der anfängliche Radikalismus ab, und die Lieder kehrten in die Kirche zurück. Von da an wurden sie aber nicht mehr wie früher fast ausschließlich vom zelebrierenden Priester, sondern von der versammelten Religionsgemeinschaft gesungen. Gerade das hatte einen wesentlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Gesangskultur in der Zeit der Reformation in Böhmen.“
Man muss sich aber trotzdem fragen, warum die Kirchenlieder, um deren Verbreitung sich maßgeblich Jan Hus verdient gemacht hatte, bei den Anhängern seiner Lehre in Ungnade fielen.„Die Hussiten wandten sich gegen alles, was sie als künstlich empfanden. Das waren für sie Statuen und Gemälde, und eben auch die Musik, vor allem der mehrstimmige Gesang. Den nannten sie ´gebrochenen Gesang´. Das alles wurde also aus den Kirchen verdrängt. Etwas später kehrte man aber doch zu den gesungenen Gebeten zurück. Nach Auffassung etlicher hussitischer Reformationsverfechter war das gesungene Gebet, vor allem die Bittstellung an Gott, wesentlich wirksamer als das deklamierte Gebet. Das war also einer der Gründe, warum man den Kirchengesang letztlich dann doch ertragen hat. Nach der entscheidenden Schlacht von Lipany im Jahr 1434, in der die radikalen Hussiten von der Koalition der gemäßigten Utraquisten und Katholiken geschlagen wurden, kam es zu einer Wende. Nach der Beendigung der Hussitenkriege wurden die so genannten Literatenbrüderschaften gegründet, die sich sehr intensiv der Pflege des Kirchengesangs widmeten. Dieser erreichte damals ein hohes Niveau, doch der Volksgesang jener Zeit ist nur spärlich dokumentiert.“
Immerhin sind tschechische Volkslieder des 16. Jahrhunderts wenigstens in wenigen Fragmenten bekannt. Dies ist einer mühevollen Forschungsarbeit in der Zeit der nationalen Erweckung zu verdanken. Dazu noch einmal Lubomír Tyllner:„Diese Lieder wurden vom tschechischen Musikwissenschaftler und Kunsttheoretiker Otakar Hostinský in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dokumentiert. Seine Forschungsergebnisse über das nationale Liedgut erschienen 1910 unter dem Titel ´36 Melodien profaner Lieder des tschechischen Volkes aus dem 16. Jahrhundert´. Hostinský befasste sich mit dem Studium alter Liederbücher und fand dort die bereits erwähnten Gesangshinweise vom Typ ´Es wird soundso gesungen´. Er ist aber auch auf Lieder in kompletter Notenaufzeichnung gestoßen, allerdings jeweils mit dem geistlichen Text und einem Fragment des ursprünglichen Volksliedtextes.“
Lückenhaft ist aber auch das Wissen über die weitere Entwicklung der Volkslieder in mindestens den drei folgenden Jahrhunderten. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts beauftragte die kaiserliche Kanzlei in Wien, die Volkslieder der Habsburger Monarchie zu sammeln. Doch schon davor kam ein bedeutender Impuls aus Deutschland von Johann Gottfried Herder: Er hatte mit seinen Volksliedsammlungen allgemein das Interesse am Volkslied geweckt. Doch das soll das Thema des zweiten Teils unserer kleinen Reihe sein.