Geschichte im Rückblick - wie man sich in Tschechien an den Prager Aufstand erinnert
Vor 60 Jahren begann mit dem Prager Aufstand auch für die tschechische Hauptstadt das letzte Kapitel des zweiten Weltkriegs. Wie auch andernorts in Tschechien haben die Prager nicht die Befreiung durch die alliierten Armeen abgewartet, sondern sich selbst den deutschen Besatzern entgegengestellt. Um das Gedenken an die Ereignisse heute und früher und den langen Weg zur historischen Wahrheit geht es im folgenden Beitrag aus der Reihe Forum Gesellschaft von Thomas Kirschner.
"Das sind Gedenktafeln, die an einen oder ein paar Namen erinnern oder an einen Unbekannten, und die überall an den Fassaden der Häuser angebracht sind, oder als kleine Denkmäler auch in den Parks stehen."
Amtsleiter Bohumil Beranek ist im Stadtbezirk Prag 6 für diese Gedenktafeln zuständig, die am Ort des Kampfes an die Opfer aus den Reihen der Aufständischen erinnern. Etwa 1700 Tschechen und über 500 russische Soldaten sind während der viertägigen Kämpfe ums Leben gekommen, außerdem rund 900 deutsche Soldaten. Allein im 6. Prager Stadtbezirk gibt es für die Opfer über 100 Gedenktafeln. Wie in ganz Prag werden die Gefallenen zum Jahrestag der Ereignisse auch hier besonders geehrt, so Amtsleiter Bohumil Beranek."An allen diesen Denkmäler und Gedenktafeln wird der Stadtteil Prag 6 am Freitag, den 6. Mai, einen eigenen Kranz anbringen."
Lubor Suslik braucht keine Kränze und Gedenktafeln, um sich an das Geschehen vor 60 Jahren zu erinnern. Der heute 77-Jährige hat als junger Pfadfinder am Kampf um das Rundfunkgebäude teilgenommen, der im Mittelpunkt des Aufstandes stand. Zusammen mit anderen Freiwilligen war Suslik, nur mit einer Pistole bewaffnet, in das Gebäude eingedrungen, das von deutschen Truppen besetzt war.
"Und als wir dann bis in die zweite Etage vorgedrungen sind, ging es nicht sehr gut weiter, denn da war eine starke Besatzung von ungefähr 80 Waffen-SS-Männern. Und die hatten die Aufgabe, den Rundfunk nicht in tschechische Hände fallen zu lassen. Da wurde dann geschossen, es wurden Granaten geworfen, kurzum, da ging es ums Leben."
Heute, sechs Jahrzehnte später, nimmt Suslik an den Gedenkveranstaltungen und Veteranentreffen teil, die der Tschechische Verband der Freiheitskämpfer organisiert. Zum runden Jahrestag gibt es in Prag eine ganze Reihe von Veranstaltungen, die an den Prager Aufstand erinnern - Ausstellungen genauso wie historische Spektakel, etwa den Nachbau von Barrikaden aus der Zeit des Aufstandes. Kurator Tomas Dvorak vom Prager Stadtmuseum hat eine Ausstellung mit authentischen Fotografien vorbereitet.
"Die Ausstellung soll den Prager Aufstand zeigen, wie er war. Wir versuchen, uns ohne Deformationen und Verzerrungen dem anzunähern, was damals passiert ist. Dazu gehören die Bestialität der SS-Einheiten und der Fanatismus mancher Deutscher genauso wie später die Erniedrigung von deutschen Zivilisten und Kindern von Seiten der Tschechen. Wir wollen mit dieser Ausstellung das Heldentum und die Begeisterung zeigen, aber zugleich auch die andere Seite des Aufstandes."
Diese andere Seite des Aufstandes ist bis heute ein empfindliches Kapitel der tschechischen Geschichte geblieben. Dazu gehören die Ausschreitungen gegen die Prager deutsche Bevölkerung, zu denen es nach dem Sieg über die deutschen Besatzungstruppen gekommen ist. Oldrich Tuma vom Institut für Zeitgeschichte fühlt sich bei der Diskussion darüber allerdings manchmal an die historischen Verzerrungen aus der kommunistischen Zeit erinnert.
"Nach dem Jahr 1989 konnte die Debatte von allen Seiten ganz offen geführt werden. Es wurden auch Ereignisse angesprochen, die vorher völlig Tabu waren, zum Beispiel verschiedene Verbrechen und Gräueltaten, die in diesen Tagen auch geschehen sind. Aber ich glaube, da ist die Geschichte dann gelegentlich auch von der anderen Seite her verzerrt worden. In manchen Darstellungen liest es sich, als sei der Prager Aufstand nur ein einziges großes Pogrom an deutschen Zivilisten gewesen, und das war sicherlich nicht der Fall."
Die Aufarbeitung der Verzerrungen und blinden Flecken, die die kommunistische Geschichtsklitterung auch bei der Erinnerung an den Prager Aufstand hinterlassen hat, dauert bis heute an. Bereits kurz nach den Ereignissen selbst habe die politische Manipulation eingesetzt, erläutert Tomas Dvorak vom Prager Stadtmuseum."Ein sehr delikates Kapitel ist etwa der Anteil der so genannten Wlassow-Armee, also von russischen Überläufern unter General Wlassow, die zunächst auf der Seite der Deutschen gegen die Rote Armee gekämpft haben, dann aber den Prager Aufstand ganz entscheidend unterstützt haben. In kommunistische Geschichtsschreibung und das kommunistische Weltbild überhaupt hat das natürlich überhaupt nicht hereingepasst."
Ein weiterer, vor der Wende unterdrückter Aspekt ist, dass der Aufstand schon am 8. Mai zu Ende ging. An diesem Tag haben die deutschen Truppen gegenüber dem Tschechischen Nationalrat, der den Aufstand geführt hat, ihre Kapitulation erklärt.
"Die deutschen Truppen haben also gegenüber den Tschechen kapituliert. Als die sowjetischen Truppen am nächsten Morgen nach Prag kamen, war Prag schon befreit. Und das hat überhaupt nicht in das kommunistische Weltbild gepasst. Dort galt die Vorstellung, dass die Rote Armee Prag befreit und vor der totalen Zerstörung gerettet hat. Dieses Bild wurde natürlich von dem Aufstand gestört, und damit auch der Anspruch, dass in der Tschechoslowakei der Sozialismus herrschen muss, weil das Land von der Roten Armee befreit worden ist."
In der kommunistischen Tschechoslowakei wurde daher der 9. Mai als Tag der Befreiung gefeiert, der Tag also, an dem die Rote Armee nach Prag gekommen ist. Heute, 15 Jahre nach der Wende und sechs Jahrzehnte nach den historischen Ereignissen, rückt wieder der Anteil der tschechischen Aufständischen in den Mittelpunkt des Interesses. Ausgangspunkt und Zentrum des Prager Aufstandes war der Kampf um den Prager Rundfunk, um das Gebäude, aus dem auch diese Sendung kommt. Zum 60. Jahrestag wird nun die Schlacht nachgestellt: Ein historisches Diorama mit einem echten Panzer, Militärfahrzeugen, Statisten in historischen Kostümen und vielen Platzpatronen. Lubor Suslik hat 1945 an dem echten Kampf um den Rundfunk teilgenommen und zahlreiche seiner Mitkämpfer hier sterben sehen. Was denkt er über die Nachstellung des Kampfes?"Das ist zwar eine Rekonstruktion, aber ich sehe das nicht als ein lächerliches Theater, sondern als Veranschaulichung für die heutige Generation. Heute kennt man ja nur noch die amerikanischen Action-Filme: Hubschrauber, Raketen und unverwundbare Helden. Damals war es ganz anders, da ging es nicht selten Mann gegen Mann."
Etwas skeptischer gegenüber der Wiederholung des Kampfes als Schaustück ist Tomas Dvorak vom Prager Stadtmuseum.
"Ich habe dazu eine ziemlich ambivalente Meinung. Auf der einen Seite ist es sicherlich positiv, weil es an das erinnert, was gewesen ist - und das in einer Art und Weise, mit der eine breite Öffentlichkeit erreicht wird. Auf der anderen Seite hat die Nachstellung darin natürlich ihre Grenzen, es ist gewissermaßen Theater, und Krieg ist eben keine Unterhaltung, sondern Töten, Sterben und Leiden."