Verhängnisvoller Navigationsfehler der US-Streitkräfte: Als Bomben auf Prag fielen
Vor 80 Jahren fielen amerikanische Bomben auf Prag. Der Angriff dauerte nur rund fünf Minuten, doch er kostete viele Menschen das Leben.
Es ist Aschermittwoch, der 14. Februar 1945. Wie schon häufiger in dieser Phase des Zweiten Weltkriegs tauchen amerikanische Bomber über Prag auf. Sie kommen von Süden. Und die Bewohner der Stadt an der Moldau sind überzeugt, dass auch dieses Geschwader auf dem Weg nach Deutschland ist. Es sind die Tage der verheerenden Angriffe auf Dresden. Doch dann gehen die Bomben über Prag nieder…
Růžena Černá ist damals 13 Jahre alt. Ihre Familie lebt in einem Haus im Stadtteil Vinohrady, mit Blick auf einen Park. In einem Interview für das Zeitzeugenprojekt Paměť národa schilderte sie vor einigen Jahren, dass sie sich immer sehr gefreut hätten, wenn die Bomber der Alliierten über Prag auftauchten:
„Mein Vater ist mit mir immer schnell zum Fenster gerannt, und wir haben nach oben geschaut. Die Bomber flogen hoch, sie waren klein und glänzten silbern wie Sternchen. Aber der Lärm war fürchterlich. Und wir sagten immer: ‚Da fliegen sie wieder nach Dresden, das ist fein.‘ Einmal schauten wir nicht in den Himmel, weil meine Mutter nicht zu Hause war und mein Vater meine kleine zweijährige Schwester hütete. Und auf einmal: Bumm, bumm, bumm.“
Die Familie hat aber Glück: Obwohl ihr Stadtteil ganz besonders stark von den Bomben getroffen wird, passiert niemandem von ihnen etwas.
Nur wegen eines geistesgegenwärtigen Retters überlebt die gleich alte Marie Machačová aus dem Stadtteil Strašnice. Als um 12.25 Uhr der Bombenangriff beginnt, ist sie mitten im Stadtzentrum auf dem Wenzelsplatz:
„Ich habe mit Zeitungen unter dem Arm am Heiligen Wenzel gestanden und auf die Straßenbahnlinie drei nach Strašnice gewartet. Plötzlich schauten alle in den Himmel. Oben glitzerte etwas Kleines und flog kopfüber hinunter. Ein deutscher Soldat, der Tschechisch sprach und wohl aus einer gemischten Familie stammte, packte meine Hand und sagte: ‚Was machst du hier…‘ Er hielt mich so stark fest, dass ich nicht weglaufen konnte, und zog mich in ein Haus. Mittlerweile weiß ich, dass es ein Hotel war, hinter dessen Tür wir rannten. Weiter kamen wir nicht, denn schon schlugen die Bomben ein.“
Erst im Folgenden finden sie einen Luftschutzraum. Später macht sich Marie Machačová zu Fuß auf den Weg nach Hause, acht Kilometer Strecke an Häusern vorbei, die einzustürzen drohen. Erst um fünf Uhr nachmittags ist sie zu Hause, aber niemand will ihr zunächst glauben, dass Teile Prags zerstört sind.
Eigentliches Ziel: Dresden
Tatsächlich war die Bombardierung an dem Tag die Folge eines Navigationsfehlers. Prag sei nicht Ziel des amerikanischen Geschwaders gewesen, bestätigt der Historiker Michal Plavec im Interview für Radio Prag International. Er ist Kurator der Flugzeugsammlungen im Nationalen Technikmuseum in Prag.
„Das erste US-Bombergeschwader, das in drei Gruppen eingeteilt war, hatte man eigentlich zum Angriff auf Dresden geschickt. Als die amerikanischen Piloten später an ihren Fliegerhorst in Großbritannien zurückkehrten, waren einige von ihnen den Berichten nach überrascht, als sie hörten, dass sie Prag bombardiert haben sollen. Sie hatten das nicht geahnt. Dazu kam es, weil der Himmel über Mitteleuropa bedeckt war. Die Navigatoren konnten sich also nicht an den Städten unten auf der Erde orientieren, denn man flog über den Wolken. Zudem herrschte starker Seitenwind, der das Geschwader auf eine Flugroute südöstlich der ursprünglichen Strecke drückte“, so Plavec.
Der Navigator Harold L. Brown hatte das Geschwader seit dem Ruhrgebiet nur noch nach Sicht leiten können, weil der Radar ausgefallen war. Und nun begann den Maschinen langsam der Treibstoff auszugehen. Es waren 62 Maschinen vom Typ B-17 Flying Fortress. Sie mussten die Bomben abwerfen, um umkehren zu können. Und da kam eine Stadt an einem Fluss in Sicht. Denn über Prag und der Umgebung sei die Wolkendecke durchbrochen gewesen, sagt Historiker Plavec:
„Mit größter Wahrscheinlichkeit, auch wenn dies weiter mit einem Fragezeichen behaftet ist, wusste der Geschwader-Chef Lewis P. Ensign sehr gut, dass sich sein Verband nicht über Dresden befand. Aber er befahl den Angriff, weil ihnen der Treibstoff ausging.“
Dabei flogen die Bomber genau die Kurve, die eigentlich für das Elbflorenz geplant gewesen war. Das heißt, sie beschrieben von Südwesten her eine S-Kurve nach Nordosten.
„Die ersten Bomben fielen daher auf den Friedhof Malvazinky, dann im Stadtteil Radlice, der etwas niedriger liegt. Danach ging es über den Bahnhof Smíchov, der jedoch nicht eigentliches Ziel war, sowie den Karlsplatz in den Stadtteil Vinohrady. Die letzten Geschosse schlugen vor dem Güterbahnhof Žižkov auf“, weiß der Forscher.
Nur rund fünf Minuten habe der Angriff gedauert, sagt Plavec, dafür sei die Zahl der Opfer jedoch hoch gewesen. Die bis heute geltenden offiziellen Angaben liegen bei 701 Toten und 1184 Verletzten. Plavec macht aber darauf aufmerksam, dass er zusammen mit seinem Kollegen Filip Vojtášek noch weitere Opfer ausfindig gemacht habe. Die Nachforschungen seien aber noch nicht abgeschlossen, daher könne er aktuell noch nichts sagen, so der Historiker.
In jedem Fall wurden die letzten Opfer erst 1970 bei der Renovierung eines Hauses in der Straße Vinohradská gefunden…
„Das war in der Metzgerei Maceška, die in ganz Prag einen guten Ruf hatte und nicht weit vom Gebäude des heutigen Tschechischen Rundfunks entfernt war. Nach dem Bombardement wurde dort zwar ein Rettungsteam hingeschickt. Dies gelangte damals aber nur bis in den zweiten Keller. Doch es gab darunter noch einen dritten Keller, von dem niemand wusste. Und genau dort wurden dann 1970 noch weitere 22 oder 23 Opfer gefunden.“
Letztlich hätten wohl nur 48 Bomber des Verbandes ihre Last über Prag abgeworfen, so Plavec. Der Rest sei hingegen wegen seiner Zweifel ausgeschert und hätte die Bomben auf einer freien Fläche niedergehen lassen. Und zufälligerweise habe man dabei einen SS-Ausbildungsplatz bei Benešov / Beneschau getroffen, schildert der Historiker.
Für die hohe Zahl an Opfern nennt Plavec mehrere Gründe. Dazu gehört auch der Glauben vieler Tschechen, dass die Alliierten die Stadt an der Moldau nicht angreifen würden. Doch es gibt noch eine Reihe weiterer. Michal Plavec:
„Zwar wurde mit Sirenen gewarnt, doch die gingen erst los, als schon die ersten Bomben einschlugen. Die Menschen hatten also kaum Chancen, noch Schutz zu suchen, obwohl dies einigen gelang. Prag war ohnehin nur teilweise auf solche Angriffe vorbereitet. Im Sommer 1944 ließ der deutsche Staatsminister im Protektorat, Karl Hermann Frank, respektive seine Mitarbeiter eine Analyse erstellen, inwieweit die Luftschutzräume in Prag ausreichen für die Bevölkerung. Zwar hatte sich ein halbes Jahr später die Lage in diesem Bereich etwas gebessert, aber zum genannten Zeitpunkt fassten die Luftschutzbunker nicht einmal 13 Prozent der Bewohner.“
Und aktiven Schutz gab es praktisch auch nicht. Weder stiegen Abfangjäger der deutschen Luftwaffe in den Himmel, noch feuerten die Flaks…
„Die Flugabwehr war zu der Zeit in Prag minimal. Geschütze standen fast nur rund um die Prager Burg. Zudem wurden provisorisch noch Flaks rund um die Fabriken von ČKD im Stadtteil Vysočany positioniert, der Konzern hieß damals Böhmisch-Mährische Maschinenfabrik“, so der Geschichtsexperte.
In diesem Betrieb ließen die Nazis damals Jagdpanzer fertigen. Er wurde erst am 25. März zum Ziel einer auch so geplanten Bombenattacke auf Prag. Doch der Angriff fünfeinhalb Wochen vorher traf vor allem Wohngebiete. Und das teils verheerend, weil die Flugzeuge entsprechend bestückt waren:
„Dass die Zahl der Opfer so hoch war, lag auch daran, dass die amerikanischen Bomber zum einen Sprengbomben hatten, zum anderen aber auch kleine Brandbomben. Das ging auf das Jahr 1943 zurück. Damals entschied Marschall Arthur Harris, der Chef der britischen Royal Airforce, nicht nur strategische, sondern auch zivile Ziele zu bombardieren. Dadurch sollte die Moral der deutschen Bevölkerung gebrochen und die Wehrmacht zur Kapitulation gezwungen werden. Die Brandbomben dienten vor allem dazu, ganze Wohnviertel zu zerstören. Beim Angriff auf Prag am 14. Februar 1945 traf das vor allem den Stadtteil Vinohrady. Dort und rund um den Karlsplatz richteten die dadurch verursachten Brände die größten Schäden an.“
Propaganda im Radio
Wie groß war aber der Schock bei den Pragern, dass die Alliierten ihre Stadt angriffen? Tatsächlich hatten die Alliierten schon ein Dreivierteljahr zuvor auch einen Luftkrieg gegen Ziele im sogenannten „Protektorat Böhmen und Mähren“ begonnen. Dieser richtete sich zunächst vor allem gegen die zahlreichen Rüstungsbetriebe, die Hitler hierzulande angesiedelt hatte, später auch gegen Verkehrsknotenpunkte. Aber Historiker Plavec sagt:
„Obwohl schon seit 12. Mai 1944 zahlreiche Bombenangriffe gegen Böhmen und Mähren geflogen wurden, waren die Bewohner Prags weiterhin überzeugt, dass sie nicht im Fokus stünden.“
Die nationalsozialistische Propaganda versuchte diese Haltung auszunutzen. Im Archiv des Tschechischen Rundfunks befindet sich eine zeitgenössische Reportage über die Lage in Prag einen Tag nach den Bomben vom 14. Februar 1945. Mit dieser wurde versucht, Stimmung gegen die Alliierten zu machen. So sagte der Reporter:
„Gestern haben wir die Bedeutung des Begriffs Terror vollkommen zu begreifen gelernt. Wir haben ihn verstanden und durchlebt. Wir, die wir nie glauben wollten, dass sich dieses Grauen und Unglück auch auf uns legen kann. In Prag sind die Brände noch nicht gelöscht, noch steigt Rauch aus den Wohnhäusern, Kirchen, Schulen und Krankenhäusern auf. Noch haben wir die Toten nicht alle aus den Trümmern geborgen – Kinder, Frauen. Noch haben wir nicht verstanden.“
Auch die Beerdigungen der Opfer nicht nur nach dem Angriff auf Prag versuchten die nationalsozialistischen Besatzer, zu Kundgebungen gegen die Alliierten umzufunktionieren. Dabei hätten sie die Reaktionen beobachtet, schildert Plavec...
„Es gibt detaillierte Berichte über die Stimmung in der hiesigen Bevölkerung nach unterschiedlichen Bombenangriffen. Der deutsche Sicherheitsdienst ließ diese immer erstellen, gestützt auf die Nachforschungen seiner Agenten. Diese Berichte waren so detailliert, weil es für die Nationalsozialisten auch wichtig war zu wissen, für wie lange die entsprechenden Rüstungsunternehmen außer Betrieb sein werden, die die Wehrmacht versorgen sollten“, so der Historiker.
Doch die Menschen in Böhmen und Mähren hätten den deutschen Besatzern in dem Punkt keinen Gefallen getan, weiß Michal Plavec:
„Das war nicht nur eine Überraschung hierzulande, sondern auch für die tschechoslowakische Exilregierung in Großbritannien. Denn aus den Berichten von Sicherheitsdienst und Gestapo ging hervor, dass zwar einige Menschen ins Zweifeln gekommen waren. Aber allgemein überwog unter den Bewohnern Böhmens und Mährens der Glaube, dass man in Kooperation mit den Alliierten siegen werde und befreit würde.“