Gewerkschaften in Tschechien II

Wie bewerten die Gewerkschaften die Privatisierung in Tschechien? Wie läuft die dreiseitigen Kooperation im Rat für Wirtschaft und Soziales? Welches sind die aktuellen Probleme oder Chancen der Gewerkschaftsarbeit in Tschechien? Welche Rolle spielt die internationale Zusammenarbeit mit anderen Gewerkschaften? Dies sind nur einige der Fragen, denen wir in der heutigen Ausgabe des Wirtschaftsmagazines nachgehen möchten. Wie schon in der letzten Ausgabe wird der Vizepräsident der Böhmisch-Mährischen Konföderation der Gewerkschaften (CMKOS), Magister Zdenek Málek, auf unsere Fragen antworten. Am Mikrofon in Prag begrüsst Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer, Jürgen Siebeck.

"Wir haben in unserem Lande eine Privatisierung erlebt, die man als ‚Wild-West-Privatisierung' beschreiben kann. Zu Anfang der 90er Jahre bis 1997 war dieser Prozess sehr hart. Nachdem zuvor fast alle in Staatsunternehmen gearbeitet hatten, fiel der Slogan, dass jeder Tscheche sein eigener erfolgreicher Unternehmer werden könne, zunächst auf fruchtbaren Boden. Jeder vertraute auf seine Kraft und Energie. Aber die sogenannte Coupon-Privatisierung brachte nicht genügend positive Effekte. Sie hat die Leute letztlich demotiviert und zu sehr aufgesplitterten Eigentumsverhältnissen geführt. Und wenn die sogenannten finanziellen und wirtschaftlichen Interessen der Gesetzgebung vorauseilten, einige sogar das Kapital aus dem Lande brachten, blieben nicht nur viele Betriebe und damit Arbeitsplätze auf der Strecke sondern häufig auch die soziale Verantwortung."

Manches hätte nach Ansicht von Vizepräsident Zdenek Málek vom Tschechischen Gewerkschaftsbund CMKOS besser gemacht werden können. Ausdrücklich lobt er die ausländischen Investoren.

"In vielen Fällen war das ausländische Kapital, das in unser Land kam, an bestimmte Regeln und Ethikrichtlinien gewohnt und benimmt sich besser als unsere eigenen Arbeitgeber. Natürlich gibt es da auf beiden Seiten Ausnahmen. Aber in den vergangenen Jahrzehnten hat sich in Westeuropa eine Tradition des sozialen Dialoges entwickelt mit der sich zunehmend auch beim Kapital durchsetzenden Erkenntnis, dass eine bessere Zusammenarbeit zwischen Unternehmensleitung und Gewerkschaften durchaus zu erfolgreicheren und wettbewerbsfähigeren Unternehmen führen kann. Bei unserer "Wild-West-Privatisierung" wurde diese Kultur nur schwach entwickelt."

Heute sei die Situation stabil und die Gesetze in Tschechien seien nunmehr ja auch schon in Übereinstimmung mit den sozialen Anforderungen der Europäischen Union. Ein wichtiges Instrument im sozialen Dialog sei dabei in Tschechien nach Meinung von Vizepräsident Málek der dreiseitige Rat für den wirtschaftlichen und sozialen Grundkonsens gewesen. In diesem Gremium sitzen Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierung an einem Tisch.

"Diese Struktur gibt es bereits seit 13 Jahren. Es ist eine Vereinbarung unter Gentlemen, nicht in Gesetzen fixiert. Wir schätzen dieses Instrument. Hier können die Gewerkschaften zum Beispiel rechtzeitig warnen vor den komplexen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Prozessen sowie anstehenden Änderungen der Gesetze und Vorschriften. Natürlich hängt der Erfolg sehr stark davon ab, ob auf der Regierungsseite Vertreter sitzen, die auf die Sozialpartner hören. Wir haben hier durchaus unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Wir brauchen dieses Gremium und seine gemeinsam erarbeiteten Positionen nicht nur im Blick auf den bevorstehenden EU-Beitritt sondern auch zur Fertigstellung unseres Transformationsprozesses."

Auch für die tschechischen Gewerkschaften gehören Streiks zum Handwerkszeug der Auseinandersetzung. Aber man gehe mit diesem Instrument nach Meinung von Vizepräsident Málek sehr vorsichtig und verantwortungsbewusst um. Zum einem, weil ein Streik in den wirtschaftlichen Umwälzungen der Vergangenheit bei manchen Betrieben den sofortigen Bankrott und damit den völligen Verlust der Arbeitsplätze bedeutet hätte, was für die Gewerkschaftsmitglieder kontraproduktiv gewesen wäre, zum anderen wohl auch, weil die Streikkassen nach nur 13-jähriger Arbeit nicht ganz so prall gefüllt sind wie bei anderen europäischen Gewerkschaften.

"Unser Ziel war es, nicht alles per Streik zu lösen, sondern vielmehr durch die Androhung von Streiks. Zum Beispiel, indem man 100 000 Leute auf dem Altstädter Ring in Prag zusammenbringt. Das haben wir zweimal gemacht. Eisenbahner und Bergarbeiter haben tatsächlich gestreikt ebenso wie die Lehrer. Dann hatten die Kollegen auch alle unsere Solidarität. Aber insgesamt haben wir den sozialen Frieden bewahrt. Das bedeutet nicht, dass wir still halten, wenn die Rechte der Arbeitnehmer missachtet oder sie nur als Ware und nicht als Menschen behandelt werden."

Der tschechische Gewerkschaftsbund CMKOS sei politisch unabhängig, was nicht heisse, dass man unpolitisch sei.

"Wir machen unsere Politik mit denen, die uns nahe stehen. Wir betreiben Lobbyarbeit in unserem Parlament, wenn möglich sogar zusammen mit der Dachorganisation der Arbeitgeber, wie zum Beispiel bei der kürzlichen Harmonisierung des tschechischen Arbeitsrechtes. Vor politischen Wahlen befragen wir die politischen Parteien zu den für uns relevanten Problemen. Ihre Positionen zu unseren ‚Prüfsteinen' machen wir bei unseren Mitgliedern und in der Öffentlichkeit publik. Wir haben regelmässige Sitzungen und Hearings mit der Regierung. Gerade mit der jetzigen haben wir stets seriöse und gute Gespräche. Aber wir haben auch regelmässig vor einer neuen Tarifrunde ein Gespräch mit der Tschechischen Zentralbank. Dabei geht es nicht zuletzt um die erwartete Inflationsrate und andere volkswirtschaftliche Eckdaten."

Die wirtschaftliche Realität in Tschechien hat sich in den letzten Jahren entscheidend verändert, worauf sich natürlich auch die hiesigen Gewerkschaften haben einstellen müssen. Man denke nur an den Trend weg von der Produktions- hin zur Dienstleistungsgesellschaft, den Trend zu einer auf Wissen- und Informationsverarbeitung orientierten Wirtschaft oder die Folgen der Globalisierung. Im Vergleich zum deutschen Gewerkschaftssystem bedauert Vizepräsident Málek in Tschechien die hohe Zahl von Einzelgewerkschaften. Auch in der Bewältigung der Auswirkungen der Globalisierung sei Deutschland stärker in der Frontlinie als Tschechien. Der wirtschaftliche Transformationsprozess in Tschechien, die schwächer werdende finanzielle Solidarität der Arbeitnehmer und die zeitgleich ablaufende Orientierung auf die moderne Dienstleistungs- und Informationswirtschaft haben auch in Tschechien zu einem Rückgang der Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften geführt. Gerade bei den auf der grünen Wiese neu entstehenden Firmen sei es häufig schwierig, Mitglieder zu rekrutieren. Man reagiere mit verstärkten Bemühungen um Neumitglieder. In der Kommunikation mit den Mitgliedern und als Sprachrohr in die Öffentlichkeit spiele die CMKOS-eigene Wochenzeitung "Sondy" eine wichtige Rolle. Zugleich verstärke man noch die regionalen Strukturen des Gewerkschaftsbundes und verbessere noch weiter die Serviceleistungen vor Ort für alle Mitglieder. Besonders in den strukturschwachen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit sei das von grosser Bedeutung.

Die Einbindung in die europäische und internationale Familie der freien Gewerkschaften hat einen grossen Stellenwert für die Entwicklung und heutige Position des Tschechischen Gewerkschaftsbundes.

"Der Europäische Gewerkschaftsbund (ETUC) gab uns in Hinsicht auf den Prozess der Globalisierung eine Menge, bezüglich der Verteidigung der Rechte von Arbeitern oder Gewerkschaften gilt das Gleiche. Ihre Experten waren immer sehr qualifiziert und wir haben uns innerhalb dieser europäischen Familie immer sehr frei und von Anfang an akzeptiert gefühlt. Durch die ETUC wurden wir auch zum respektierten sozialen Partner der Europäischen Institutionen. Der Kampf gegen Lohndumping und Fragen der Migrationen von Arbeitnehmern sind hier Themenbeispiele. Wir haben unsererseits die Aufmerksamkeit Europas darauf gelenkt, dass im Transformationsprozess bei uns und in anderen Teilen des mittleren und östlichen Europas die soziale Dimension sehr vernachlässigt wurde. Für uns ist es eine wichtige Entscheidung, dass wir Ende Mai in Prag Gastgeber für den 10. ETUC Kongress sein dürfen. Ich möchte hier auch die herzlichen Kontakte erwähnen zur deutschen und österreichischen Gewerkschaftsbewegung, auch auf regionaler Ebene. Wir sind dankbar für diese Zusammenarbeit und vielfältige Hilfestellung."

Damit schliessen wir das heutige Wirtschaftsmagazin. Mit einem Dank an Vizepräsident Málek vom Tschechischen Gewerkschaftsbund für die Informationen und bei Ihnen für Ihr Interesse verabschiedet sich aus Prag Jürgen Siebeck.

Autor: Jürgen Siebeck
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