Gläserne Decke: Jungen tschechischen Pop-Sängerinnen bleibt Weg ins Radio und in die Charts oft verwehrt
Im tschechischen Mainstream-Pop fehlt der weibliche Nachwuchs. Radio-Playlisten und Albumcharts sind hierzulande klar von Männern dominiert. Während sich Bands wie Kryštof und Chinaski wochenlang in den Hitparaden halten, haben es junge einheimische Musikerinnen deutlich schwerer, überhaupt im Radio gespielt oder von Musikfans auf den Plattformen gestreamt zu werden. Liegt das daran, dass es einfach weniger Sängerinnen in Tschechien gibt? Oder bestehen in der hiesigen Musikindustrie genderbedingte Hürden?
Frauenstimmen sind in der tschechischen Popmusik weniger oft zu hören als Männerstimmen. Das gilt zumindest für den Mainstream, also die Playlisten der bekannten Radiosender sowie die größten Streamingplattformen. Michal Kašpárek ist Datenjournalist beim öffentlich-rechtlichen Tschechischen Rundfunk und hat sich die einheimischen Hitparaden der vergangenen Jahre genauer angesehen:
„Die Charts werden vom tschechischen Büro der Internationalen Föderation der Musikindustrie zusammengestellt. Werfen wir einen Blick auf die 100 meistgespielten Songs in tschechischen Radiosendern, dann lag das Verhältnis Solosänger zu Solosängerin im Jahr 2022 bei 2:1. Bei Streamingdiensten, anhand derer die Nutzer ihre Musik selbst auswählen, ist der Unterschied noch gravierender und fällt mit 5:1 aus.“
Das Thema einer Unterrepräsentation von Frauen sei im tschechischen Musikbusiness genauso aktuell wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen, bestätigt Aneta Martínková. Sie ist Redakteurin bei Radio Wave, dem Jugendsender des Tschechischen Rundfunks, und hat gemeinsam mit Michal Kašpárek die Pop-Szene hierzulande analysiert. In fast allen Ebenen der Mainstream-Musik fehle es an weiblichen Vertreterinnen, so Martínková:
„Zählt man die Musikpreise Anděl in der genderfreien Kategorie ‚Album des Jahres‘ zusammen, so wurde er an Frauen oder an Bands mit einem Frauenanteil insgesamt viermal in 32 Jahren vergeben. In jenen Jahrgängen, als diese Kategorie noch auf mehrere Genres aufgeteilt war, gab es weitere zwei Preisträgerinnen. Das macht folglich sechs Namen in einer 32-jährigen Geschichte. Die ‚Entdeckung des Jahres‘ war insgesamt elf Mal eine Frau. Das Missverhältnis ist also groß.“
Auch in den Jahreshitparaden der zehn meistverkauften Alben in Tschechien habe sich 2022 keine einzige Musikerin gefunden, fährt die Redakteurin fort. Und die wenigen weiblichen Chartvertreterinnen in den vier Jahren zuvor hätten alle aus dem Ausland gestammt.
Dies könne zum einen am weit verbreiteten Misstrauen gegenüber der Leistung von Frauen liegen, liefert Martínková einen Erklärungsansatz. Die tschechische Musikindustrie halte zum anderen aber spezielle Hürden für junge Frauen bereit:
„Wir haben festgestellt, dass es hierzulande derzeit eine starke neue Welle an jungen Musikerinnen gibt. Sie schreiben ihre Songs selbst, fangen ihre Karriere auf eigene Faust an, haben kein Label und präsentieren sich in den sozialen Netzwerken. Mit ihrem Schaffen stoßen sie aber an eine Gläserne Decke: Sie gelangen nicht in die Mainstreamebenen mit hohen Hörerzahlen, mit Verträgen bei großen Labels und mit höheren Einnahmen.“
Ohne namhafte Musiklabels hätten diese Künstlerinnen dann auch kaum eine Chance, im Radio gespielt zu werden, so Martínková weiter. Und damit bliebe den Musikerinnen auch die Nominierung für wichtige Musikpreise vorenthalten.
Keine Scheu vor schwierigen Themen
Wer sind nun also die jungen Frauen, die von den Musikdramaturgen der meisten tschechischen Radiosender übersehen werden? Aneta Martínková nennt etwa Tea Sofia, die noch als Abiturientin vor etwa drei Jahren ihre ersten selbstproduzierten Aufnahmen veröffentlichte. Oder die Sängerin Terra, die Wert darauf legt, authentisch zu sein und sich in ihren Songs nicht vor schmerzhaften Themen wie Abhängigkeit oder sexualisierter Gewalt scheut.
Redakteurin Martínková zufolge sei den Nachwuchsmusikerinnen gemein, dass sie internationale Poptrends in die tschechische Szene einbringen. Dazu gehöre im Übrigen auch Aiko, die Tschechien in diesem Jahr beim Eurovision Song Contest vertreten wird…
„Diese Musikerinnen arbeiten mit Elementen von Elektropop oder R’n’B. Thematisch sind ihre Texte breitgefächert. Oft sind aber eine neue Sensibilität erkennbar und die Bereitschaft, offen über die innere Verfassung, die eigene Unsicherheit und Partnerbeziehungen zu sprechen – dies allerdings in einem anderen Rahmen als die klassischen Liebeslieder aus dem Radio, die auch in den Hitparaden sind.“
Für die Musikdramaturgen der gängigen Radiosender in Tschechien sei diese Musik aber zu wenig eingängig, berichtet Martínková von den Gesprächen, die sie mit den entsprechenden Kollegen geführt hat:
„Es heißt oft, dass es hierzulande keine Nachfolgerinnen für die Musikerinnengeneration von Lucie Vondráčková oder Pop-Königinnen wie Ilona Csáková gebe. Ich meine aber, dass sich gerade in den unteren Ebenen des tschechischen Pop interessante Musik findet, die mit der Qualität von internationalen weiblichen Stars vergleichbar ist. Es scheint jedoch zu ungewöhnlich oder bisher nicht akzeptabel zu sein, dass die neuen tschechischen Künstlerinnen selbst die Autorinnen ihrer Musik und ihrer Texte sind. Das war bei der vorangegangenen Generation eben noch anders.“
Die persönlichen Themen der jungen Frauen und ihr Duktus seien für das Mainstream-Publikum in Tschechien schwer zu greifen, fügt Martínková hinzu. Und von Radiomachern würden diese Texte als zu kompliziert und problembehaftet angesehen, um sie den Hörern zuzumuten…
„Allgemein herrscht im tschechischen Radio-Mainstream die Tendenz vor, Musik mit einer beruhigenden Wirkung auszuwählen. In den Songs werden keine bestimmten Themen oder Wahrheiten gesucht, es wird also kein Wert auf aussagekräftige Texte gelegt. Man ist es hierzulande einfach nicht gewohnt, so etwas von Texten zu erwarten.“
In den Charts nur die üblichen männlichen Verdächtigen
Martínkovás Kollege Michal Kašpárek bestätigt diese Analyse. Die tschechischen Hitparaden der vergangenen Jahre spiegelten die Radio-Playlisten wider, sagt der Datenjournalist. Und dabei sei es fast egal, ob man auf die Bands mit den meisten Nummer-Eins-Hits schaue oder auf jene Lieder, die sich am längsten in den Charts halten…
„Die ersten drei Plätze gehören immer – und zumeist in der gleichen Reihenfolge – Kryštof, Chinaski und Mirai. Alle drei Gruppen stehen für den gleichen Musikstil und auch den gleichen Typ Band: Es sind Jungs mit Gitarren, die wenig anspruchsvolle Musik machen, bei der man relaxen kann und deren Geschichten wir alle erleben. Im Großteil der Texte kommen keine Probleme vor. Eher handelt es sich um hübsche Songs über die Liebe. Nur manchmal geht es vielleicht auch darum, dass man überarbeitet ist.“
Die üblichen Verdächtigen fänden sich mitunter auch in den Hitparaden der Streamingdienste, berichtet Kašpárek weiter. Allerdings sind darin eher Rapper präsent, die es ebenfalls so gut wie nie ins Radio schaffen. Rap ist bei der jungen Generation in Tschechien seit längerem das beliebteste Genre. Auch hier würde es an weiblichen Acts fehlen, betont Redakteurin Martínková. Mit wenigen Ausnahmen…
„Annet X ist meiner Meinung nach ein leuchtendes Beispiel für eine Künstlerin, die zugängliche Musik macht. Das gilt sowohl auf einer melodiösen R’n’B-Ebene, die auch in Radio-Playlisten passt, als auch für ihren Rap, den sie auf ihrem neuem Album noch mehr ausbaut. Annet X hätte meiner Meinung nach das Potential, auch auf höherem Niveau Erfolg zu haben. Aber gerade ihr Geschlecht hält sie auf dem Level der alternativen Szene fest. Diese verehrt die Rapperin zwar sehr und hat ihr den Apollo-Musikpreis verliehen. Dieser richtet sich aber eher an eine alternative Musikkategorie. In die höheren Ebenen mit mehr Hörerzahlen hat sich Annet X jedoch bisher noch nicht vorgearbeitet.“
Was wäre also zu tun, um jungen Künstlerinnen in Tschechien den Weg in den Mainstream-Pop zu ermöglichen? Eine Genderquote sei hierzulande als Methode sehr unpopulär, gibt Aneta Martínková zu bedenken. Dennoch empfiehlt die Redakteurin, sich positive Beispiele aus dem Ausland zum Vorbild zu nehmen. Die Initiative Keychange etwa würde die Organisatoren internationaler Festivals dazu auffordern, für mehr Gendergerechtigkeit beim Line-Up zu sorgen. Solche Bemühungen seien auch schon in Tschechien erkennbar, so Martínková:
„Kleinere Festivals bemühen sich bereits um ein gendergerechtes Programm. Und dadurch ist hierzulande auch die Zahl junger Künstlerinnen sprunghaft angestiegen. Es ist einfach nötig, dass sich auch die größeren Player dieser Frage annehmen und genauer abwägen, ob sie Frauen nicht doch mehr Raum geben sollten. Die Labels müssen ihre Entscheidungen reflektieren, damit diese nicht nur vorteilsbelastet getroffen werden oder einem Mythus folgen, der über Frauen und deren Arbeit auch nach 100 Jahren immer noch herrscht. Dann könnte sich die Lage vielleicht verbessern.“