Golden oder nur vergoldet? Was die Sechziger Jahre in der Tschechoslowakei so besonders machte
In Deutschland erinnert man sich – bezogen auf das 20. Jahrhundert –mit leuchtenden Augen an die Goldenen Zwanziger Jahre. Für Tschechen und Slowaken strahlt ein anderes Jahrzehnt aus ihrer jüngeren Geschichte hervor. Eben jenes, das sie auch mit der größten Niederlage ihrer Nachkriegsgeschichte verbinden. Die 60er Jahre standen zunächst für Entspannung, frischen Wind und Aufbruch. Und für den Prager Frühling, der im August 1968 gewaltsam beendet wurde. Die Ernüchterung darüber hält bei einigen Zeitzeugen bis in die Gegenwart an. Darum sind die Erinnerungen an die „Goldenen Sechziger“ nicht nur positiv. Wir haben mehrere Gespräche ausgewertet, die der Dokumentarist Jan Sedmidubský mit Zeitzeugen geführt hat.
„Wir waren Dreißig oder Mitte Dreißig, und um uns herum nur gute Laune. Die goldenen Sechziger…“
So fasst die Historikerin Anastazie Kopřivová (geb. 1936) lakonisch das Lebensgefühl zusammen, das Mitte der 60er Jahre in der Tschechoslowakei geherrscht hat. Ein „Tauwetter“ setzte unter Präsident Antonín Novotný ein, der in den 50er Jahren noch Stalins Linie mit umzusetzen half und allgemein als verknöchert galt. Symbol für den „Prager Frühling“ und den Optimismus des Jahres 1968 wurde dann aber Alexander Dubček. Während diese letzten Monate der Entspannung eher mit einer politischen Öffnung und dem Bemühen um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verbunden werden, gingen dem ein paar wenige Jahre des kulturellen Erwachens voraus.
Die Goldenen Zwanziger Deutschlands haben ihren Titel vor allem dem wirtschaftlichen Aufschwung und nachfolgenden Wohlstand zu verdanken. Für die Tschechen und Slowaken wurden die Sechziger durch mutige Filmproduktionen, mitreißende Popsongs, eine blühende Publizistik und unabhängige Theater veredelt. Der Schriftsteller und Dichter Eugen Brikcius (geb. 1942) drückt es poetisch aus:
„Die 60er Jahre. Ich würde sagen, es gibt Dekaden und Dekaden. Aber diese Dekade ist unter allen Dekaden die am meisten dekadische. Das sind die besten Jahre.“
Und der Biophysiker Ivan Havel (geb. 1938) erinnert sich:
„Es war eine sehr interessante, sagen wir, angenehme Zeit. Auf einmal blitzten Zeichen der Lockerung auf. Es fing ein Tauwetter an. Vorher lief alles nach dem Kurs der Partei. Aber unter Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern wurde vieles anders. Da gab es die berühmten Schriftstellerausflüge, dann die Kafka-Konferenz, Theater gründeten sich. Auf einmal war alles lebendig! Jedes Jahr durfte man mehr, es herrschte Optimismus und wir waren ganz begeistert davon. Es kulminierte mit dem Jahr 1968.“
Sogar ein berühmtes Pop-Trio, bestehend aus Marta Kubišová, Helena Vondráčková und Václav Neckář, gab sich den Namen Golden Kids. Es ließ sich freier atmen in den 60er Jahren. Das künstlerische Schaffen dieser Zeit wirkt bis heute nach und bewahrte wohl so Manchen in den Jahren der sogenannten Normalisierung vor dem Verzweifeln.
Eben die folgenden zwei Jahrzehnte der Normalisierung und Ernüchterung haben ihren Anteil daran, dass über die „zlatá šedesátá“, die „Goldenen Sechziger“, oft nostalgisch gesprochen wird und sie ein Stück weit zum Mythos geworden sind. Angesichts ganz unterschiedlicher Aussagen einer Reihe von Zeitzeugen stellt sich die Frage, ob die Sechziger tatsächlich golden oder nur vergoldet waren, wie es Jan Sedmidubský bei der Präsentation der Gespräche im Tschechischen Rundfunk formulierte.
Die große Bedeutung der behutsam einsetzenden politischen Entspannung für Menschen, die in den vorangegangenen 50er Jahren ihre Jugend durchlebt haben, wird nur im zeitlichen Kontext deutlich. Ladislav Smoljak (1931-2010), Mitbegründer des Jára-Cimrman-Theaters, erläutert:
„In den 60er Jahren begann der härteste Druck nachzulassen, alles entspannte sich. Es ist logisch: Wenn ein grausames, hartes Regime antritt, dann führt es zuerst Hinrichtungen durch. Dann schickt es die Leute lebenslänglich ins Gefängnis, danach verringern sich die Strafen. Dann reicht irgendwann auch nur die Drohung, dass man seine Arbeit verliert. In den 60er Jahren war es schon möglich, ein bisschen durchzuatmen. Natürlich musste man noch gewisse Regularien einhalten.“
Ähnlich empfand es Eugen Brikcius:
„Einordnen würde ich das Jahrzehnt so, dass ihm die 50er Jahre vorausgingen. Da war ich noch ein Kind, später ein Bursche, und die Jahre waren düster. Schrittweise wurde ich überzeugt, dass es anders nicht sein kann, dass dies ein tausendjähriges Reich ist. Als die 60er begannen, war ich schon gewöhnt an die Finsternis und durchschritt sie ruhig und ungestört. Es gab aber ein interessantes Phänomen, so als ob es zu leuchten begann. Als dann die 70er Jahre kamen, hörte es auf zu leuchten.“
Für dieses Leuchten sorgte unter anderem eine Lockerung der Zensur. Die interessanten Nachrichten fanden sich allerdings nicht auf den Titelseiten der Zeitungen. Anastazie Kopřivová:
„Aber nach den 50er Jahren war das eine riesige Veränderung – zum Besseren natürlich. Wenn auch langsam. Das war für mich nicht politisch. Fernsehen hatten wir nicht. Die Nachrichten habe ich nicht verfolgt. Und von den Zeitungen hatten wir ‚Svobodné slovo‘, das war eine seltene Tageszeitung. ‚Lidová demokracie‘ war noch seltener, die haben wir also gar nicht bekommen. Aber die erste Seite habe ich nicht gelesen, die war doch bei allen Zeitungen gleich. Sport habe ich auch nicht gelesen, aber dafür die lokalen Nachrichten und Kultur. Also alles über Musik, Bücher, Theater und Freunde.“
Die jüngere Generation konnte sich begeistern und schöpfte Hoffnung auf eine freiere Zukunft. Ältere Intellektuelle betrachteten das Geschehen aber durchaus mit Skepsis. Filmregisseur Jiří Krejčík (1918-2013) etwa hatte einen anderen Blick auf die Sechziger und den Prager Frühling:
„Für mich gab es nie etwas Goldenes. Aber die 60er Jahre waren eine eigenartige Zeit. Es schien, als würde es vielleicht ein wenig anders und besser werden, als es vorher war. Und als Novotný nun abtrat, trat Dubček an, und es herrschte so eine Euphorie, so eine Hoffnung. Ich weiß nicht, woraus die Hoffnung entstanden ist, dass die Zukunft besser wird als die Vergangenheit.“
Bei dieser misstrauischen Sicht auf die 60er Jahre klingt bei Krejčík zudem eine gewisse Verbitterung mit. Die Aufbruchsstimmung und neue Kreativität ließ nämlich sehr schnell hinter sich, was mit den 50er Jahren verbunden wurde, auch im Filmbereich. Krejčík wurde quasi überrollt:
„Für mich war diese Zeit nicht besonders günstig für meine Arbeit, denn auf einmal gab es die Neue Welle (Nová vlna). Überall hieß es: Neue Welle. Ich gehörte nicht mehr dazu. Ich weiß gar nicht, zu welcher Welle ich überhaupt gehörte, auf jeden Fall zur alten. Die Zeit hat mich verschluckt.“
Auch der ehemalige Diplomat und damalige Rundfunkkorrespondent in Moskau, Luboš Dobrovský (1932-2020), lässt Verbitterung verspüren:
„Ich hatte relativ schnell die Überzeugung, dass dies zu nichts Gutem führt. Dass das die Welt nicht umstürzt, dass wir nicht direkt zur Demokratie übergehen. Aber dass es hoffentlich etwas besser wird. Aus heutiger Sicht und mit meinen weiteren Erfahrungen im Rücken gesehen, bedeutete das nur, dass wir einfach noch mehr versauern, als wir vorher schon sauer waren.“
Über den Begriff der „Goldenen Sechziger“ ärgert sich Dobrovský geradezu. Er warnt vor einer Verklärung der Erinnerungen:
„Es ist so eine Floskel, die mich zu einem gewissen Maße aufregt. Ich weiß nicht, wo das entstanden ist und warum man sie so benutzt. Mir ist natürlich völlig klar, dass das, was in meinem Leben war und wohin ich nach 40 Jahren zurückkehre, natürlich mehr ein interpretiertes Erlebtes ist, als die eigentliche Erinnerung an das Erlebnis. Und ich kann mich meiner Erkenntnis nicht erwehren, zu der ich in den folgenden 40 Jahren gelangt bin.“
Bei dieser Interpretation der eigenen Erinnerungen spielen die Ereignisse vom 21. August 1968 unbestreitbar eine große Rolle. Die Ernüchterung äußert sich in der Rundfunkmeldung zum Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen:
„Sehr geehrte Zuhörer! Bleiben Sie an Ihren Radiogeräten. In Kürze werden wir eine außerordentlich wichtige Nachricht senden… Sehr geehrte Zuhörer, wir übertragen eine außerordentliche Proklamation des Präsidiums des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei: An das Volk der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik! Gestern, am 20. August 1968, überschritten gegen 23 Uhr die Truppen der Sowjetunion…“
Wenn mancher Zeitgenosse auch skeptisch geblieben ist oder wenig Goldenes an den 60er Jahren gesehen hat, so gehört das Gefühl der Hoffnung doch untrennbar zum Jahr 1968 in der Tschechoslowakei. Die Enttäuschung und das Entsetzen über die gewaltsame Niederschlagung dessen, was in den wenigen Jahren durch behutsame, aber mutige Initiativen entstanden ist, waren bis in das Ausland zu spüren.
„Prager Frühling“, das ist in vielen Ländern noch heute der Begriff für Entspannung und Aufbruch hinter dem Eisernen Vorhang. Die „Goldenen Sechziger“ hingegen bleiben ein wichtiger Begriff für die tschechische und slowakische Geschichtsschreibung. Er ist auch in der Gegenwart präsent und beeinflusst das heutige Empfinden der Zeitzeugen. Mit schwarzem Humor konstatiert Eugen Brikcius in einem Interview zu Beginn des neuen Jahrtausends:
„Die 60er Jahre sind die beste Dekade in vielerlei Hinsicht. In erster Linie bezüglich der tschechischen Kunst, nicht nur im Film, aber auch in der bildenden Kunst. Das hat sich nie wiederholt. Auch im Verlauf der 90er Jahre kam es nicht zu solch hellen Momenten. Und nun erleben wir, wenn ich mich nicht verzählt habe, die Nuller Jahre und so sehen sie auch aus.“