Golem-Inzenierung lässt Zuschauer in künstliche Welt eintauchen
In die verlassene Villa Nr. 858 auf der Prager Insel Štvanice kehrt ab Sonntag für drei Wochen wieder Leben ein. Der Theaterverein „Tygr v tísni“ inszeniert dort eine Dramatisierung des berühmten Romans „Der Golem“ von Gustav Meyrink. Studenten der Prager Theaterhochschule „Damu“ bringen mit ihrer Interpretation eine in Tschechien bisher unbekannte Theaterform auf die Bühne – das so genannte immersive Theater. Radio Prag hat die Theaterprobe besucht. Vom Regisseur Ivo Kristián Kubák und von der Dramaturgin Marie Nováková haben wir erfahren, was es mit dem immersiven Theater auf sich hat.
Mit diesen Sätzen beginnt der berühmte Roman des Prager deutschen Autors Gustav Meyrink, der ein Klassiker der phantastischen Literatur ist. Die Geschichte des Golems spielt in der Zeit, als das jüdische Viertel in Prag gegen Ende des 19. Jahrhunderts niedergerissen wurde. Der Erzähler glaubt im Halbtraum, Athanasius Pernath zu sein, dieser hatte 30 Jahre zuvor in dem Viertel gewohnt und war als Gemmenschneider und Restaurator von Antiquitäten tätig gewesen. Realität und Fantasie, Alltag und Traum gehen im Roman fließend ineinander über. Die Handlung des Romans wurde zur Vorlage für das neue Projekt des Theatervereins „Tygr v tísni“. Die Dramaturgin Marie Nováková:
MN: „Unsere Überlegungen haben sich parallel sowohl auf die Form, als auch auf den Stoff bezogen. Wir haben über die Form des so genannten immersiven Theaters erfahren. In diesem Theater taucht der Zuschauer in die Geschichte ein und wird deren Bestandteil. Zudem hatten wir den Roman seit längerer Zeit im Sinn. Eine Bearbeitung im klassischen Guckkastentheater schien uns aber wegen der komplizierten Handlung unmöglich. Erst nachdem wir die Form des immersiven Theaters entdeckt hatten, haben wir nach diesem Roman gegriffen. Das Schizophrene, die kriminalistischen Elemente und die Romanfiguren, die anders handeln, als es auf den ersten Blick scheint, das alles eignet sich unserer Meinung nach ausgezeichnet für diese Theaterform.“
Das Schlagwort der neuen Theaterform ist die Immersion. Diese wird definiert als die Überführung in einen Bewusstseinszustand, bei dem sich die Wahrnehmung der eigenen Person in der realen Welt vermindert und die Identifikation mit dem „Ich“ in der virtuellen Welt vergrößert. Der Regisseur Ivo Kristián Kubák:IKK: „Der Zuschauer hat keine Chance, sich dem Geschehen zu enziehen. Das Theater geschieht überall um ihn herum. Wenn er die Villa betritt, gerät er in eine alternative Realität, in der die Zeit anders vergeht und in der sich eigenständige Geschichten abspielen. Er kann zuschauen, er kann aber auch neugierig sein und tiefer in die Geschichte eintauchen und mitmachen. Allerdings hat der Zuschauer keine Chance, alles zu sehen, da sich einige Szenen parallel abspielen.“
Jede Szene spielt sich aber nur einmal ab. Der Zuschauer könne sich verlieren, räumt der Regisseur ein. Dennoch werde ihm immer ein Anhaltspunkt geboten, um den Faden wieder aufzunehmen.
IKK: „Selbst wenn der Zuschauer nur in einem Zimmer bleibt, erlebt er eine Geschichte mit, zumindest die Geschichte jenes Zimmers. Über jede Szene wird auch auf anderen Wegen informiert: in Rundfunksendungen, in Flugblättern oder in Zeitungen. Das heißt, sollte der Zuschauer eine Szene verpassen und sie nicht mit eigenen Augen sehen, findet er andere Kanäle, um darüber zu erfahren. Wir hoffen, dass sich der Zuschauer schnell orientiert. Die erste Stunde der Vorstellung dient dazu, festzustellen, welche Figur sich in welchem Zimmer befindet und was sie dort macht. Erst nach einer Stunde beginnt sich die Geschichte dann zu entwickeln.“
Für die Produktion steht die ganze Villa mit drei Stockwerken zur Verfügung. Es sind mehrere Räume, die von neun Bühnenkünstlern gestaltet wurden. Außerdem wird an zwei bis drei Orten draußen vor der Villa gespielt, und es gibt noch einen beweglichen Spielraum: Der Zuschauer kann in ein Auto einsteigen, sich fahren lassen, und auch dabei etwas über das Geschehen erfahren.MN: „Die Villa stellt das Haus dar, in dem die Hauptfigur und ihre Nachbarn wohnen. Der Hauptheld Athanasius Pernath hat darin sein Atelier, es gibt dort ein ehemaliges Sprechzimmer des Augenarztes, eine große Wohnung des Mystikers, ein Schmeichelkabinett der örtlichen Prostituierten, einen Keller, den ein an Tuberkulose leidender Medizinstudent bewohnt, die Bar ‚Zum Alois’ und weitere Räume.“
Dank der Inszenierung bekommt die Öffentlichkeit nach langer Zeit wieder die Gelegenheit, die klassizistische Villa auf der Moldau-Insel Štvanice zu besuchen. Die leeren und rohen Zimmer wurden in Theaterräume umgestaltet, im Hauptsaal wurde eine Bar errichtet.
IKK: „Das Haus wurde in den 1820er Jahren gebaut. Über viele Jahre hinweg gab es hier ein Balllokal namens Růžodol. Danach wechselten die Besitzer mehrmals. Zuletzt hatte eine CD-Produktionsfirma hier ihren Sitz, allerdings nur bis zum Hochwasser von 2002. Seitdem steht das Haus leer.“
Schauspielstudenten und frische Absolventen der Prager Theaterhochschule „Damu“ sowie mit ihnen befreundete bildende Künstler, Choreographen und Musiker beteiligen sich an der Vorstellung. Ivo Kristián Kubák:
IKK: „Unser Ensemble nennt sich ‚Tygr v tísni’ (‚Tiger in Not’). Wir suchen uns Schauspieler, Bühnenkünstler und Produktionsleiter für konkrete Projekte aus. Wir beide, das heißt Marie Nováková als Dramaturgin und ich als Regisseur, sind immer als das leitende Tandem dabei. Im Moment hat das Ensemble etwa 100 Mitglieder. ‚Der Golem’ ist unser bisher größtes Projekt. Das hängt auch damit zusammen, dass wir unser Studium bald abschließen werden. Wir wollten auch mal etwas Großes versuchen.“Bei seinen früheren Projekten hat das Ensemble häufig keine Theaterstücke aufgeführt, sondern literarische und andere Texte auf die Bühne übertragen. Die Dramatisierung ist meist das Werk von Marie Nováková.
MN: „Ich muss sagen, dass mich dies eigentlich nicht mehr interessiert als die Interpretation von Theatertexten. Da wir aber im Rahmen des Schauspielstudiums fest vorgegebene dramatische Texte interpretieren, arbeiten wir außerhalb der Hochschule an Sachen, die uns irgendwie persönlich berühren und interessieren. Deswegen haben wir nicht-dramatische Texte ausgesucht. Diese behandeln häufiger aktuelle und wichtige Themen.“
IKK: „Allerdings muss bemerkt werden, dass Meyrinks ‚Golem’ – auch wenn es ein Roman ist – ein dramatischer Text ist. Trotzdem war aber die Dramatisierung sehr anspruchsvoll. Wir haben fast ein ganzes Jahr daran gearbeitet.“
„Der Golem“ sei der erste Versuch um das immersive Theater hierzulande, sagt Ivo Kristián Kubák. Inspirationen fand man bei der Theatergruppe Punchdrunk, die in Großbritannien und in den USA auftritt. Sonst halten die beiden jungen Theaterleute aber vor allem das deutsche Theater für besonders anregend. Herbert Fritsch nennen sie dabei als ihren Lieblingsregisseur:
MN: „Für mich ist überraschend und unbegreiflich, mit welcher Hingabe die deutschen Schauspieler agieren und wie gut sie trainiert sind, beispielsweise auch körperlich, aber vor allem im sprachlichen Ausdruck und der Bühnenperformance. Wir haben noch nicht den Weg gefunden, wie wir dies auch hierzulande umzusetzen könnten.“IKK: „Im deutschen Theater wird manchmal alles aus sich herausgeholt. Mit geringen Mitteln werden große Bilder und große Szenen gestaltet. Da gelingt es, auf einfache Art und über eine direkte Herangehensweise an den Stoff etwas zur heutigen Zeit zu sagen.“